33 Tage. Marko Rostek
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Der Reichskanzler fühlt sich müde, ausgezehrt und antriebslos. Der kurzfristige Stimmungsaufschwung, der vorgestern Abend bei ihm durch die kaiserlichen Randnotizen auf Tschirschkys Bericht eingetreten ist, hat nicht lange angehalten. Seine Stimmung hat bald danach wieder umgeschlagen. Durch den Tod seiner über alles geliebten Frau im Mai dieses Jahres hat sich sein bisheriges Leben, sowohl das private als auch das politische, mit einem Schlag relativiert. Schon vor dem tragischen Ereignis hat ihn die lange, schwere Krankheit seiner Frau immens belastet und seine ohnehin ausgesprochen pessimistische Grundhaltung, was die Lage des Deutschen Reiches im Allgemeinen und die Gestaltungsfreiheit seiner Regierungstätigkeit im Besonderen betrifft, zusätzlich verstärkt. Durch den Tod seiner Gattin hat eine Perspektivenlosigkeit und Leere von ihm Besitz ergriffen, mit der er nicht umgehen kann. Schließlich hat er sich vorgenommen, die Sommertage auf seinem Landsitz östlich von Berlin, fernab der politischen Weltbühne, zu verbringen, um seine angeschlagene Verfassung wieder ins Lot zu bringen. Was sein Privatleben anbelangt, so hat er die Hoffnung gehegt, dass sich die vertraute und stimulierende Umgebung auf seinem Gut positiv auswirken würde.
Was sein öffentliches Leben als Kanzler des Deutschen Reiches anbelangt, so hat er mit Erschütterung feststellen müssen, dass sich die innere Leere auch seiner Einstellung zur aktiven Gestaltung der Politik bemächtigt hat. Lustlosigkeit und völliger Verlust von Kompromissbereitschaft haben sich in seine Arbeitsweise eingeschlichen. Während seine außenpolitische Ausrichtung immer danach gestrebt hat, mit England einen friedlichen Konsens zu finden, sieht er jetzt darin keinen Sinn mehr. Die letzten Jahre haben zwar zögerliche Annäherungen mit der Weltmacht gebracht, aber nun tritt die politische und militärische Einkreisung des Deutschen Reiches im klarer vor seine Augen. Für seine Ziele hat er stets Kompromisse gemacht, in Marokko, in Persien, und noch zuletzt ist er dem englischen Sondergesandten Haldane weitestgehend entgegengekommen. Doch jetzt, im Banne der geänderten Wahrnehmung, ist es ihm möglich, sich einzugestehen, dass durch die britisch-russischen Flottenvereinbarungen des vergangenen Jahres seine Politik der Annäherung an England gescheitert ist. Das harte Ringen um die kleinen Schritte hat zu nichts geführt, jetzt ist damit Schluss. Seine persönliche Tragödie hat ihm klargemacht, dass die österreichisch-ungarische Monarchie aus dieser Einkreisungspolitik als letzter und wichtigster Verbündeter hervorgetreten ist. Daher begreift er die Nachricht aus Sarajevo, die ihn auch auf seinem Landsitz erreicht hat, als Chance für Deutschland, aus dieser Umklammerung auszubrechen und Weltmachtpolitik ganz nach der Spielart seines Kaisers zu betreiben.
Was soll ihn jetzt daran hindern? Er, Theobald von Bethmann Hollweg, hat nichts mehr zu verlieren. Er schnauft die letzten Meter ins Sitzungszimmer des Kaisers und stellt fest, dass die übrigen Teilnehmer dieser Unterredung und der Kaiser selbst bereits am Konferenztisch sitzen. Zigarrenrauch treibt ihm entgegen. Durch die geöffneten Fenster dringt kühle Luft ins Zimmer, sodass die Atmosphäre halbwegs erträglich ist. Kaum hat Bethmann Hollweg den Raum betreten und den Kaiser begrüßt, beginnt dieser, sein Gespräch mit dem österreichischen Delegierten Hoyos zusammenzufassen, und liest Auszüge aus den beiden ihm überbrachten Dokumenten vor. Nachdem er mit seiner Schilderung fertig ist, legt Wilhelm die Papiere weg und fährt fort: „Für Österreich und dessen Entschlussfreudigkeit in dieser Sache ist es von enormer Wichtigkeit, dass wir in dieser schweren Stunde hinter ihm stehen. Und für das Deutsche Reich ist es lebenswichtig, dass die Habsburgermonarchie auch weiterhin als vollwertiger Verbündeter im Dreibund verbleibt.“ Wilhelm blickt in die Runde. Niemand sagt ein Wort, doch alle nicken zustimmend. „Ich halte jedoch fest, dass Ich Österreich nicht vorschreiben kann, was es zu tun hat. Trotzdem habe Ich zugesagt, dass sie bei ihren Aktivitäten Unsere volle Unterstützung finden werden.“ „Wenn Österreich nicht länger gewillt ist, diese ewigen Provokationen Serbiens hinzunehmen, wird es wohl militärisch dagegen vorgehen müssen!“ Bethmann Hollwegs Einwurf wird von den Übrigen mit zustimmenden Äußerungen quittiert. Der Reichskanzler fährt fort: „Wir müssen aber in Betracht ziehen, dass Russland diesen Schritt der Österreicher in Serbien nicht tolerieren wird und sich zum Krieg gegen den verhassten Feind entschließen könnte. Österreich würde sich dann einem Zweifrontenkrieg gegenübersehen.“ Bethmann Hollweg klingt besorgt und seine Stimme spiegelt seine müden Augen wider. „Ja, das ist korrekt“, entgegnet Wilhelm. „In diesem Fall tritt Unsere Bündnisverpflichtung in Kraft und Ich habe Österreich jedenfalls Meine Unterstützung auch dafür zugesichert.“
Bethmann Hollweg, Falkenhayn und die anderen sind erstaunt und blicken den Kaiser entgeistert an. Eine überhastete Aktion Wilhelms hatte man schon des Öfteren zu glätten gehabt, aber eine Unterstützungserklärung für einen Kriegsfall gegen Russland, noch dazu in Abwesenheit des Chefs des Generalstabes, wird von allen als ausgesprochen leichtsinnig empfunden. Verlegen wandern Blicke der Männer umher, wer wohl den Mut aufbringen wird, dem Kaiser den Leichtsinn dieser Zusage vor Augen zu führen. General Falkenhayn, der Kriegsminister, fasst sich ein Herz und erkundigt sich ausweichend beim Kaiser, ob gemäß dieser Zusage nicht auch in Deutschland Vorbereitungen für den Kriegsfall zu treffen wären. Wilhelm II. blickt seinen Minister an und schwächt mit einem lächelnden Gesichtsausruck ab: „Nein, das wird nicht nötig sein, denn es wird Meiner Einschätzung nach nicht zum Krieg kommen!“ Der deutsche Kaiser lehnt sich entspannt im Sessel zurück und genießt die verwunderten Gesichter seiner Gesprächspartner. Mit überlegenem Gesichtsausdruck fährt er fort: „Bedenken Sie, dass man, selbst wenn Russland entgegen aller Logik mobilisieren sollte, davon ausgehen kann, dass die österreichische Armee mit den Serben fertig sein wird und sich an die russische Grenze verschiebt, bevor Russland die Mobilmachung abgeschlossen hat. Ich denke also, dass Russland einen Verhandlungsweg einschlagen wird, bevor es sich auf einen Krieg einlässt.“
Nach einem Moment der Zurückhaltung macht wieder allgemeines Kopfnicken die Runde. Man entzündet Zigarren, zieht genüsslich daran und versucht, die Strategie des Kaisers noch einmal nachzuvollziehen. Dieser setzt wohl auf die Tatkraft der Österreicher, die ehestmöglich gegen die Serben zu Felde ziehen und diese vernichtend schlagen müssen. Bevor die Russen dann mit ihrer Mobilmachung, die gewiss 30 Tage dauert, die Österreicher bedrohen, hätten diese einen Stellungswechsel vollzogen und könnten die Russen an der gemeinsamen Grenze erwarten. Die Russen würden daraufhin wieder zurückziehen und die Sache wäre erledigt. Zigarren werden zum Mund geführt und blasser Rauch hebt sich langsam zum Plafond empor.
Nach einer Weile ergreift Erich von Falkenhayn das Wort und bestätigt, sich dabei an die anderen wendend, den Grundgedanken des Kaisers: „Die Einschätzungen Ihrer Majestät zur russischen Mobilmachung werden im Übrigen auch vom Generalstab geteilt. Wir sind überzeugt, dass diese im Moment noch sehr lange dauern würde.“ Niemand antwortet. In typisch militärischer Rhetorik und Gestik verdeutlicht der Kriegsminister den Anwesenden die militärische Lage der beiden großen europäischen Bündnisse und geht dabei insbesondere auf die Lage des Deutschen Reiches ein. Immer wieder auf Bethmann Hollweg blickend, der Falkenhayn in seinen Ausführungen mit zustimmenden Wortmeldungen unterstützt, unterstreicht der Kriegsminister die Warnungen vor einer Übermacht der feindlichen Armeen, die in gemeinsamem Vorgehen einen Vorteil gegenüber der deutschen auf ihrer Seite hätten. Einzig die Schwäche der russischen Mobilmachung halte die Gegner noch davon ab, über Deutschland herzufallen, „aber sie werden laufend besser, denn die französischen Gelder und Militärstrategen zeigen bereits Wirkung. Wir stehen daher auf dem Standpunkt, dass, wenn man losschlägt, um die Einkreisung zu durchbrechen, es jetzt besser ist als später. Ich darf ergänzen, dass auch der österreichische Generalstab, namentlich Conrad von Hötzendorf, diesen Standpunkt vertritt.“ Falkenhayn tritt mit dieser Aussage unter den Besprechungsteilnehmern eine Diskussion los, in der alle für den Kriegsfall ins Auge zu fassenden Maßnahmen und Gegenmaßnahmen detailliert erörtert werden.