33 Tage. Marko Rostek
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Brauer ist verunsichert. So emotional hat er seinen Chef schon lange nicht mehr erlebt. Die weitere Fahrt bis zum Ministerium, so überlegt er, wird er wohl besser schweigen. Mittlerweile haben sie die Stadtgrenze von Wien passiert und Brauer fährt mit gedrosseltem Tempo durch die Straßen der Stadt. Die Hitze an diesem Feiertag lässt die Temperatur im Fahrzeug rasch ansteigen, sodass Berchtold im Fond das Fenster öffnet und sich durch die Zugluft ein wenig Kühlung im Wageninneren erhofft. Das Treiben auf den Straßen, in den Cafés sowie auf den Plätzen, an denen sie vorbeifahren, lässt ihn keinen Unterschied zu anderen Tagen erkennen. Nichts deutet auf die Katastrophe von Sarajevo hin. Im Gegenteil. Als sie am Prater vorbeifahren, lässt Berchtold den Wagen anhalten. Er steigt aus, geht einige Schritte um den Wagen herum und stellt verwundert fest, dass selbst hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Keine Spur von Trauer und Fassungslosigkeit. Die Belustigungen und Vergnügungen werden dem Feiertag entsprechend ausführlich konsumiert und das schöne Wetter trägt das seinige zur allgemeinen Heiterkeit bei. Gedankenschwer steigt der Minister wieder in den Wagen. Es ist allgemein bekannt, dass Franz Ferdinand in der Bevölkerung nicht sehr beliebt gewesen ist, aber eine derartig geringe Resonanz auf seinen Tod hat er nicht erwartet.
Um 17:18 Uhr biegt Brauer vom Ring in Richtung Ballhausplatz ab, fährt am Hofburgtheater vorbei und erreicht kurz darauf das Ministerium des Äußeren. Die Ankunft des Ministers wird bereits erwartet, denn kaum hält das Automobil, stürmt ein Adjutant vor das Haus und öffnet die Wagentür, um Berchtold herauszuhelfen. Dieser nimmt seine Aktentasche mit den Notizen und verabschiedet sich von Brauer, nicht ohne diesen nochmals an die morgige Abholzeit und die zu besorgenden Morgenzeitungen zu erinnern. Als der Wagen abfährt, bleibt Berchtold am Straßenrand stehen und hält inne. Er blickt hinüber zur Hofburg. Die Hitze der Abendsonne lässt die Luft zittern, ein Windstoß wirbelt Staub und etwas Laub auf und lässt beides in kreisförmigen Bewegungen höher steigen, um alles schließlich in einer Hausecke sanft abzulegen. Sein Blick fällt auf die Fahnenmasten der Hofburg, wo seit gestern schwarze Flaggen auf Halbmast wehen. Tief durchatmend wendet sich Berchtold um und geht zügigen Schrittes ins Haus.
Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigt ihm, dass bis zur Ankunft des Chefs des Generalstabes noch circa eine halbe Stunde verbleibt. Auf dem Weg zu seinem Büro eilt ihm bereits ein weiterer Mitarbeiter des Außenamtes entgegen, um ihn, während sie die Treppen und Gänge entlangschreiten, über die Ereignisse der vergangenen Stunden zu informieren. Trotz des Feiertags seien bereits die meisten Mitarbeiter im Haus und verrichteten, dem traurigen Anlass entsprechend, ihren Dienst. Unzählige Telegramme seien eingegangen, unter anderem vom deutschen Ministerpräsident und vom deutschen Außenminister, von allen in Wien ansässigen Botschaftern und auch vom serbischen Geschäftsträger, wie der Assistent sich hinzuzufügen beeilt. Darüber hinaus kämen immer neue Nachrichten aus Sarajevo, die als Urheber der Tat immer stärker Belgrad ausweisen. Mittlerweile seien sechs Personen verhaftet worden. „Sechs!“, entfährt es Berchtold, während er überrascht stehen bleibt. „Aber das ist ja dann eine Verschwörung und nicht das Attentat eines Einzelgängers!“ Für einen kurzen Moment entweicht die Farbe aus seinem Gesicht und Berchtold sieht seinen Mitarbeiter fassungslos an. „Für sechs Personen braucht es Organisation, Koordination und einen Plan! Wehe uns, wenn dieser tatsächlich aus …“ Er spricht seine Gedanken nicht zu Ende, sondern hastet, gefolgt von seinen Mitarbeitern, ins Büro.
Hinter seinen Schreibtisch sitzend und auf die Uhr blickend, instruiert er seinen engsten Beraterstab: „Meine Herren, in 17 Minuten, Sie wissen, Conrad erscheint immer fünf Minuten vor der Zeit, wird dieser hier sein. Bis dahin wünsche ich einen präzisen Überblick!“ Berchtold schlägt seine Mappe auf und greift nach einem Stift. Der Reihe nach berichten seine Mitarbeiter über die Ereignisse in Sarajevo, die wichtigsten Meldungen aus den europäischen Hauptstädten sowie die Reaktionen in der Monarchie. Er hört dabei von der Festnahme eines gewissen Gavrilo Princip und weiterer fünf Personen. Zudem wird erläutert, dass man die Leichname von Franz Ferdinand und seiner Gattin von Sarajevo per Eisenbahn an die Küste transportiert und diese von dort mit der Viribus Unitis, dem Flaggschiff der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, nach Triest überführen wird. Von dort werden sie, abermals mit der Eisenbahn, nach Wien gebracht. „Erwarteter Ankunftstag in Wien ist der 2. Juli“, stellt ein Mitarbeiter abschließend fest. Leopold Berchtold stellt einige Fragen zu den Attentätern, die von seinen Mitarbeitern nur ungenügend beantwortet werden können. Man verweist auf die laufenden Untersuchungen und die stündlich eintreffenden Telegramme aus Sarajevo.
„Wie sicher sind die Angaben über die Verbindungen nach Belgrad?“, fragt Berchtold in die Runde, spricht dabei aber keinen Mitarbeiter direkt an. Mit dem Finger auf das Porträt seines Vorgängers zeigend, fügt er mahnend hinzu: „Und ich will eine zuverlässige Auskunft!“ Niemand antwortet. Berchtold steht auf und geht zum Fenster. Während er hinausblickt, erinnert er sich an den sogenannten Friedjung-Prozess, der schließlich seinen Vorgänger das Amt kostete. Man hatte damals versucht, Aufruhrbestrebungen in Kroatien mithilfe geheimdienstlicher Beweismittel mit Serbien in Verbindung zu bringen. Im Zuge des darauffolgenden Prozesses wurde man zum Gespött der Öffentlichkeit und der europäischen Mächte, als herauskam, dass die Beweismittel Fälschungen waren. Einem Desaster solchen Ausmaßes zu entgehen, ist nun Berchtolds erster Gedanke. Seine Mitarbeiter erahnen dies zwar, können zu diesem Zeitpunkt seine Bedenken jedoch nicht zerstreuen. Die Meldungen aus Sarajevo seien noch nicht überprüft, daher wäre es wohl besser, noch keine offiziellen Verlautbarungen zu machen.
In diesem Moment erscheint ein Wagen vor dem Ministerium, ein Mann in Uniform steigt, ohne das vorgesehene Türöffnen eines Ministeriumsangestellten abzuwarten, aus und eilt ohne weitere Verzögerung ins Haus. Berchtold dreht sich zu seinen Mitarbeitern um. „Der General ist eingetroffen, ich bitte Sie, mich spätestens um 19:30 Uhr zu unterbrechen. Um 20 Uhr beginnt der Sonderministerrat, bereiten Sie dafür alles Weitere vor!“
Die Mitarbeiter verlassen das Büro. Berchtold stimmt sich auf die Unterredung ein und redet sich nochmals selbst ins Gewissen: „Ich darf diesmal keine Schwächen zeigen! Ein Feldzug, der sich womöglich zu einem europäischen Krieg auswächst, ist die letzte Option, darauf muss ich bestehen!“ Der Minister des Äußeren, stets auf sein Erscheinungsbild bedacht, rückt seinen Schlips zurecht und entnimmt aus seiner Aktentasche das Papier mit den Notizen, als es an der Tür klopft. Nach seiner Aufforderung tritt ein Mitarbeiter ein und meldet die Ankunft seines Besuchs. Graf Berchtold lässt bitten und geht einige Schritte zur Tür. Es ist 17:59 Uhr, als Franz Conrad von Hötzendorf, der Chef des Generalstabes der gemeinsamen Armee, das Büro von Leopold Berchtold betritt.
Berchtold bleibt stehen und streckt seinem Gast die Hand entgegen. Mit festem Händedruck, die Augen nicht voneinander lassend, stehen sich die beiden gegenüber. Conrad, einen Kopf kleiner als Berchtold, ist in seiner Generalsuniform erschienen, steht aufrecht und selbstbewusst vor Berchtold und blickt diesem argwöhnisch in die Augen. Berchtold, den Blickkontakt abbrechend, weist seinem Gast einen Sessel an der Besucherseite seines Schreibtisches zu, wartet, bis sich dieser gesetzt hat, und geht erst dann um seinen Schreibtisch herum. Dieses kleine taktische Geplänkel bewirkt, dass Berchtold noch steht und Conrad sitzend zum Minister des Äußeren aufschauen muss, als er, von diesen Nebensächlichkeiten unbeeindruckt, selbstbewusst das Gespräch eröffnet. Seine Stimmlage, seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck weisen auf einen Mann hin, der gewohnt ist, die Führung zu übernehmen und die vollständige Verantwortung für seine Handlungen zu tragen. Conrad kommt daher gleich zu Sache: „Exzellenz, dass wir uns unter diesen Umständen wieder treffen, konnte keinesfalls erwartet werden, aber nun liegt ein Attentat auf die Monarchie vor, das den gesamten Staat in seiner Existenz bedroht. Wir müssen sofort handeln! Und …“, Conrad beugt sich nach vorne und legt seine Handschuhe auf Berchtolds Schreibtisch, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „nach meiner