33 Tage. Marko Rostek
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„Mein verehrter General“, beginnt Berchtold und lehnt sich dabei in seinem Sessel zurück, „wie Sie wissen, können wir gegen Serbien nicht vorgehen, ohne dass Russland, bei seinen traditionellen Beziehungen zu diesem Balkanstaat und ohne einen ungeheuren Verlust an Prestige, unserem Vorgehen tatenlos zusehen kann. Und was das bedeutet, brauchen wir nicht näher zu erläutern! Die Folgen des russischen Eingreifens liegen doch offen zutage …“ „Die Folgen des Attentates liegen ebenfalls offen zutage, Herr Minister!“, unterbricht ihn Conrad. „Die seit Langem zu beobachtenden nationalistischen Strömungen der südslawischen Rasse können auch Sie nicht wegleugnen und wir haben die Wahl, ob dieser angestrebte Zusammenschluss der Slawen innerhalb der Monarchie auf Kosten Serbiens oder außerhalb der Monarchie auf unsere Kosten erfolgen wird. Ich“, Conrad hebt seine Stimme, „habe schon oftmals betont, dass mit dem Verlust der südslawischen Länder nicht nur ein Territorial-, sondern auch ein enormer Prestigeverlust für die Monarchie entstehen könnte. Österreich würde zu einem Kleinstaat verkommen!“
Conrad ist aufgestanden, ihm schaudert bei dieser Vorstellung. Klein beizugeben, entspricht so gar nicht seinen Wesenszügen. Er ist immer Klassenbester gewesen, von der Kadettenzeit bis zur Militärakademie, immer auf ein Ziel ausgerichtet: Meister seines Faches zu sein. Jetzt, da er die für seine Begriffe verspätete Chance gekommen sieht, am Balkan endlich für klare Verhältnisse zu sorgen, will er sich nicht ein weiteres Mal von den Bürokraten vorführen lassen. Er steht auf, blickt fest entschlossen auf Berchtold hinunter und erwartet dessen Reaktion. Berchtold, ohnehin schon sorgfältig platzierte Büroutensilien zurechtrückend, lässt einige Augenblicke verstreichen, um die erhitzte Atmosphäre zu beruhigen. Dann antwortet er, Conrad mit der rechten Hand auf den Sitz zurückdeutend, mit sanfter Stimme: „Mein lieber Conrad, setzen Sie sich wieder. Natürlich kennen wir alle Ihre Denkschriften und wir haben sie oftmals erörtert, aber …“, Berchtold macht eine Gedankenpause, „Aktionen ohne Rückversicherungen können bei der aktuellen Mächtekonstellation ebenfalls das Ende der Monarchie bedeuten. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ich gebe Ihnen allerdings recht, dass wir diesmal den nun eingetretenen Moment zur Lösung der serbischen Frage nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Seine Majestät ist ebenfalls heute aus Ischl zurückgekehrt und ich habe morgen eine Allerhöchste Audienz hierzu. Um die Gunst der Stunde in unserem Sinne und vor allem gegenüber den Mächten zu nutzen, müssen wir, verehrter General, außerdem den Ausgang der Untersuchungen in Sarajevo abwarten.“
„Die Moslems und Kroaten der Monarchie sind gegen die Serben“, entgegnet Conrad, während er sich wieder hinsetzt. „Und die Russen müsste man mit dem Hervorheben des Antimonarchischen dieser Tat beruhigen. Das ist die Aufgabe Ihrer Dienststelle, Herr Minister. Die politische und militärische Außenwirkung der Monarchie muss einheitlich sein. Wir können uns keinen Gesichtsverlust mehr leisten!“ Conrad hebt abermals seine Stimme und blickt auf das Porträt des Amtsvorgängers von Berchtold, Graf Aehrenthal. Dann fährt er fort: „Wir können am 1. Juli mobilisieren und Serbien ohne weitere Verhandlungen zur Rechenschaft ziehen. Wenn man eine giftige Natter an der Ferse hat, schlägt man ihr den Kopf ab und wartet nicht auf den tödlichen Biss!“
Den letzten Satz hat der General dem Minister voller Polemik entgegengeschleudert. Berchtold, der weiß, dass Conrad auf die nur mit Mühe abgewickelte bosnische Annexionskrise sowie seine, Berchtolds, zweifelhafte Außenpolitik während der beiden Balkankriege 1912 und 1913 anspielt, entgegnet mit Bedacht, um die Geduld nicht zu verlieren: „Wir werden angemessen reagieren. Ich habe mir ein Vorgehen zurechtgelegt, wie wir auf diesen barbarischen Akt reagieren werden. Zum einen müssen wir den Ausgang der Untersuchungen in unsere Reaktion mit einfließen lassen, zum anderen ist es unsere Pflicht, die Haltung unseres Bundesgenossen zu erfragen … Ja, bitte?“ Berchtold wird von einem vorsichtigen Klopfen unterbrochen und blickt zur Tür. Ein Mitarbeiter tritt mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Ministerrat ein und unterbricht auf diese Weise das Gespräch. Berchtold bedankt sich bei dem Mann, der mit einer Verbeugung den Raum verlässt. Sich an Conrad wendend, fährt Berchtold fort: „In 30 Minuten beginnt ein Sonderministerrat, in dem wir die weitere Vorgehensweise erörtern werden. Ich werde auch Ihren Standpunkt einbringen, Herr General. Morgen bin ich, wie gesagt, bei Seiner Majestät zur Audienz und danach, so schlage ich vor, unterbreite ich Ihnen die Ergebnisse beider Zusammenkünfte. Ich ersuche Sie, mir ebenfalls über die Entwicklungen Ihrer Termine und vor allem bezüglich der Ereignisse in Sarajevo Bericht zu erstatten.“ Conrad und Berchtold stehen auf, verabschieden sich kurz mit höflichen Floskeln und Conrad von Hötzendorf verlässt entschlossenen Schrittes das Büro.
Nachdenklich setzt sich Leopold Berchtold wieder an seinen Schreibtisch. Der Handlungsspielraum für die Monarchie ist ausgesprochen begrenzt, denn wie auch immer die Reaktion auf diesen Mord ausfallen wird, die Konsequenzen könnten fatal sein. „Vom militärischen Standpunkt aus hat Conrad recht“, denkt sich Berchtold. „Aber trotzdem: Ein Krieg gegen Serbien, in den höchstwahrscheinlich Russland eingreifen wird, ist die letzte Alternative, bevor wir nicht wissen, wie sich Deutschland dabei verhält! Wir stehen doch mit dem Rücken zur Wand!“ Berchtold blickt auf die Uhr. Bis ins Parlament braucht er zu Fuß etwa 15 Minuten, also hat er noch einen Augenblick Zeit. Als Leiter des Auswärtigen Amtes muss er in diesem tragischen Fall die Richtung vorgeben und entsprechend selbstbewusst auftreten. Er geht zum Spiegel, richtet sich Kragen und Schlips, zupft an seinem Jackett und wirft einen Blick auf die Schuhe. Ein Taschentuch zückend, bückt er sich und entfernt die Staubschicht von seinen schwarzen Schuhen. Dann richtet er sich wieder auf und blickt prüfend in den Spiegel. Seine makellose Erscheinung entlockt ihm den Anflug eines zufriedenen Lächelns. Er dreht sich um, sortiert die Arbeitsunterlagen vom Schreibtisch in die Aktentasche und eilt raschen Schrittes die Korridore des Ministeriums entlang.
DIENSTAG, 30. JUNI
Oskar Potiorek steht vor einer Zellentür des Stadtgefängnisses von Sarajevo und zögert. Er ist unrasiert, müde, unausgeschlafen. Seine Augen, mit schwarzen Ringen untermalt, liegen in tiefen Höhlen und versuchen, irgendwo an der Zellentür Halt zu finden. Langsam und behäbig nähert sich der Feldzeugmeister der Tür und gibt dem Wachmann schließlich doch ein Zeichen, sie zu öffnen.
***
Für den 61-jährigen Potiorek, General der Kavallerie im Rang eines Feldzeugmeisters, waren die Stunden nach dem Attentat ein einziger Albtraum. Rund um die Uhr trafen Telegramme, Depeschen, Telefonanrufe aus der gesamten Monarchie und aus dem Ausland in Sarajevo ein. Es waren Hunderte. Die Männer im Telegraphenbureau musste man im Dreistundenrhythmus wechseln, länger hielt ihre Konzentrationsfähigkeit nicht an. Die Heerschar der Reporter und Berichterstatter, die über die Stadt hereingefallen war, wuchs rasch, nachdem sich die Unglücksmeldung seit Sonntag verbreitet hatte. Neben den beiden Toten stand Oskar Potiorek im Mittelpunkt des Interesses. Alle Anfragen und Auskunftsersuchen hatten einen ähnlichen Inhalt: Wie war der Hergang des Attentats? Wer sind der oder die Täter? Wie konnte das überhaupt geschehen? Wer trägt die Verantwortung? Immer wieder wurde die Frage nach Ursache und Verantwortung vorgebracht. Mit schonungsloser Gewalt forderten die Wissbegierigen Antworten.
Potiorek hatte die Tragweite der Katastrophe im Laufe der ersten Nacht nach und nach realisiert. Jede anklagende Anfrage, die auf seinen Schreibtisch oder an sein Ohr gelangte und Erklärung sowie Rechenschaft forderte, riss vor ihm jenen Abgrund weiter auf, an dem er sich nun wiederfand. Mit jedem publizierten Detail des Verbrechens würde die Meute auch ihn und seine Verantwortung als oberster Landeschef von Bosnien und Herzegowina