Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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«Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber eine Milderung der vom alten Recht für die Vermittlungsfähigkeit von Behinderten verlangten Erfordernisse erreichen. Nur noch die Erwerbslosigkeit, welche «voll oder stark überwiegend» auf den Gesundheitszustand eines Behinderten zurückzuführen ist, sollte nicht mehr zu dem von der Arbeitslosenversicherung gedeckten Risiko gehören (…) Selbst Bezüger einer ganzen Invalidenrente sind daher im Falle ihrer Arbeitslosigkeit grundsätzlich anspruchsberechtigt, sofern ihre Vermittelbarkeit auch durch die ungünstige Konjunkturlage beeinträchtigt und für Arbeitsstellen, bei welchen sie mit einem sozialen Entgegenkommen von Seiten des Arbeitgebers rechnen können, nach wie vor gegeben ist (…)»[95]
Beiträge Behinderter in der ALVEs entspricht damit Sinn und Zweck der Vorschrift, dass die Vermittlungsfähigkeit von behinderten Personen in der ALV weit gefasst wird, um zu vermeiden, dass Personen, die zuvor Beiträge bezahlt haben, nun (mangels Vermittlungsfähigkeit) ohne Leistungen dastehen.[96] Die Rechtsprechung ging denn auch in der Arbeitslosenversicherung dazu über, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt insofern weit zu fassen, als er auch «soziale Winkel» umfasst, d.h. Arbeits- und Stellenangebote, bei welchen behinderte Personen mit einem sozialen Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin rechnen können.[97]
Verwertbarkeit der RestarbeitsfähigkeitDiese besondere Regelung in der Arbeitslosenversicherung zugunsten der behinderten Personen wirkt sich gegenteilig aus, wenn sie unbesehen auf die Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung übertragen wird, worauf Miriam Lendfers zu Recht hingewiesen hat:[98]
«Komplett aus dem Kontext gerissen tauchen nun diese Ausführungen zum Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarkts [in der Arbeitslosenversicherung] bei der Frage der Verwertbarkeit einer Restarbeitsfähigkeit bei der Invaliditätsbemessung wieder auf – hier wirken sie sich aber nicht etwa zugunsten der Versicherten aus, im Gegenteil. Wie überzeugend kann vor diesem Hintergrund die Behauptung sein, der ausgeglichene Arbeitsmarkt enthalte auch Nischenarbeitsplätze, bei denen die versicherte Person mit einem sozialen Entgegenkommen des Arbeitgebers rechnen könne?»
Von der Einführung des ATSG bis heute
Schaffung des ATSG
Vom IVG ins ATSGMit der Schaffung des ATSG wurde der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes vom IVG ins ATSG überführt (Art. 7 und 16 ATSG).[99] Im Bericht des Ständerates vom 27. September 1990 betreffend die parlamentarischen Initiative zur Schaffung eines Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts wurde – in Anknüpfung an die vorbestehende Rechtslage – vorgeschlagen, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt bei der Frage des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen.[100]
Vorschlag des BundesratesDagegen gehörte das Merkmal des ausgeglichenen Arbeitsmarktes nach Auffassung des Bundesrates nicht in die Umschreibung der Erwerbsunfähigkeit. Der Bundesrat schlug deshalb vor, die Formulierung «auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt» durch «auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt» zu kürzen. Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» sei eher ein Abgrenzungskriterium für die Zuständigkeit zwischen einzelnen Sozialversicherungen, also zwischen der Invalidenversicherung und der Arbeitslosenversicherung. Der Hinweis sei in der Definition der Bestimmung des Invaliditätsgrades am Platz, nicht aber in Bereichen, wo es um kurzfristige Geldleistungen gehe.[101]
KommissionDie nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit prüfte diesen Vorschlag, folgte letztlich aber dem ursprünglichen Entwurf des Ständerates. In der Subkommission ATSG wurde die Bedeutung der «Ausgeglichenheit» des Arbeitsmarktes einlässlich erörtert.[102] Von Expertenseite wurde dargelegt, dass sich der Begriff des Arbeitsmarktes durch zwei Kriterien auszeichne: Der Arbeitsmarkt müsse für den Versicherten in Betracht kommen und ausgeglichen sein. Während das erste Kriterium in der Person des Versicherten angelegt sei, setze die Ausgeglichenheit ein gewisses Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage (keine Vollbeschäftigung, aber auch keine Arbeitslosigkeit) voraus. Der konjunkturell bedingte Arbeitsausfall werde durch die Arbeitslosenversicherung abgedeckt. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit sei nicht von der aktuellen Arbeitsmarktlage abhängig.
ObjektivierungIm Bericht der nationalrätlichen Kommission wird weiter ausgeführt, dass der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten über das Kriterium des ausgeglichenen Arbeitsmarktes «objektiviert» und «nicht von den Zufälligkeiten der Arbeitsmarktschwankungen abhängig» wird.[103] Es wäre stossend, wenn die Erwerbsunfähigkeit je nach Arbeitsmarktsituation unterschiedlich hoch angesetzt würde. Wer in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise auszuüben, aber keine Arbeit finde, sei nicht erwerbsunfähig, sondern arbeitslos. Das Arbeitsmarktrisiko sei nicht über die Invaliden- bzw. Unfallversicherung gedeckt. Die Definition des Ständerates entspreche der Gerichtspraxis. Eine Streichung des ausgeglichenen Arbeitsmarktes, wie es der Bundesrat beantragt hatte, würde den falschen Eindruck erwecken, dass bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit auf den real existierenden Arbeitsmarkt abzustellen sei. Dies sei nicht der Fall, weil Art. 22 E-ATSG (= Art. 16 ATSG), der den Grad der Arbeitsunfähigkeit bestimme, wieder am ausgeglichenen Arbeitsmarkt anknüpfe. In Grenzfällen sei es weitgehend eine Ermessensfrage, zwischen Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Dies sei indes kein Grund, das bisher geltende und bewährte Abgrenzungsprinzip aufzugeben. Die Formulierung des Ständerates diene der Klarheit.[104]
Verzicht auf DefinitionAuf eine gesetzliche Definition des ausgeglichenen Arbeitsmarkts wurde auch im ATSG verzichtet. Das EVG führte seine bisherige Rechtsprechung unter der Geltung des ATSG fort und hielt dazu fest: «(…) auch an den einzelnen Bemessungskriterien (Validen- und Invalideneinkommen, Berücksichtigung einer zumutbaren Tätigkeit sowie des ausgeglichenen Arbeitsmarktes etc.) ändert sich unter der Herrschaft des ATSG nichts»[105].
Neue Herausforderungen
MissbrauchsproblematikAb Mitte der 1990-er Jahre stieg die Zahl der IV-Rentenbeziehenden erneut stark an,[106] namentlich bei den psychischen Erkrankungen.[107] Anders als die Krisendiskussion in den 1970-er Jahren löste diejenige der 1990-er Jahre intensive gesetzgeberische Aktivitäten in der Invalidenversicherung aus und war in dieser Hinsicht politisch folgenreicher, wobei aus historischer Sicht eine «Medikalisierung der Krisendiskussion» auffällt.[108] Es entzündete sich erneut eine Missbrauchsdebatte, wobei vor allem Rentenbeziehende mit psychischen Problemen im Fokus standen.[109] Verwaltungs- und Gerichtspraxis gingen dazu über, die (problematischen) Abstrahierungen bei der Invaliditätsbemessung erwerbstätiger Versicherter in die gesundheitliche Komponente «vorzuverlagern».[110] Die Ausschälung psychosozialer und soziokultureller Faktoren[111] wie die inzwischen überwundene Überwindbarkeitspraxis[112] sind Ausdruck einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis, die Defiziten in der (medizinischen) Abklärung und einer befürchteten Inflation «sozialer Leiden» entgegenwirken wollte. Vergleiche der Daten der 1990-er Jahre ergaben, dass in Jahren mit niedrigem wirtschaftlichem Wachstum die Ausgaben der Invalidenversicherung markant anstiegen.[113] Auswertungen konnten aber keinen institutionalisierten, routinemässigen Übertritt von Erwerbslosen zur Invalidenversicherung feststellen.[114]
Strengere PraxisDie strengere Beurteilung von Rentengesuchen durch die kantonalen IV-Stellen seit der Jahrtausendwende sowie eine restriktivere Gerichtspraxis in Bezug auf die Zusprache von IV-Renten wurden schliesslich im Rahmen einer grossangelegten Studie durch das BSV im Jahr 2007 bestätigt.[115] Bei knapp der Hälfte der Fälle war das Invalideneinkommen streitig, dessen Bemessung in direktem Zusammenhang mit dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt steht. Bei den untersuchten Urteilen ging es unter dem Titel des Invalideneinkommens viel stärker