Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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NischenarbeitsplätzeDie höchstrichterliche Rechtsprechung zum «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» blieb insofern konstant, als immer wieder auf BGE 110 V 273 verwiesen wurde.[117] Anders als zu den Anfangszeiten der IV ging die Gerichtspraxis in einer Vielzahl von Fällen gar nicht mehr vertieft auf die gesamten persönlichen Verhältnisse[118] der Versicherten ein, sondern verwies pauschal auf die Möglichkeit von Überwachungs- und Kontrollarbeiten als körperlich leichte Tätigkeiten.[119] Als Beispiele solcher körperlich leichter Tätigkeiten nennt die Rechtsprechung auch heute noch Concierge, Parkplatzwächter, Museumswärter oder Lagerist.[120] Solche Nischenarbeitsplätze sind aber bedingt durch den Strukturwandel im Schwinden begriffen. Dieser Strukturwandel wirkt sich nach den verfügbaren Studien besonders negativ auf die Beschäftigungschancen niedrig qualifizierter Arbeitnehmender aus,[121] denn der schweizerische Arbeitsmarkt hat sich über die Jahrzehnte tiefgreifend verändert: Während die Zahl der Erwerbstätigen im Industriesektor abnahm, gewann der Dienstleistungssektor zunehmend an Gewicht. Im Jahr 2003 arbeiteten bereits knapp 72 % der Erwerbstätigen in der Schweiz in diesem Sektor. Viele Arbeitsplätze gingen deshalb verloren. Die Anforderungen an die erwerbstätige Bevölkerung haben sich durch diese Verschiebung der Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor und durch den technischen Fortschritt im Industriesektor verändert. Betroffen sind – wie erwähnt – vor allem gering qualifizierte Erwerbstätige.[122]
Kaufmännischer BereichAber auch die Struktur der Arbeitsplätze im kaufmännischen Bereich hat sich erheblich verändert, wo – wie das EVG bereits im Jahr 2003 festhielt – «die Tendenz in Richtung Sachbearbeitung geht, die Beschränkung eines bestimmten Arbeitsplatzes auf reine Schreib- und Kommunikationsfunktionen zunehmend schwieriger wird und auch Arbeitsplätze mit einem einfachen Aufgabenbereich vielfältig ausgestaltet sind (…) Wenn es schon für Gesunde schwierig ist, eine sich auf einfach Büroarbeit beschränkende Stelle zu finden, so muss bei einem bestimmten, im Einzelfall zu würdigenden Mass an gesundheitlich bedingten Einschränkungen bei der Ausübung einer schon seltenen Tätigkeit davon ausgegangen werden, dass das Leistungsvermögen auch bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage nicht mehr Gegenstand von Angebot und Nachfrage bildet und die Restarbeitsfähigkeit in der betroffenen Tätigkeit nicht mehr wirtschaftlich verwertbar ist».[123] Der Bundesrat äusserte sich ähnlich (dazu unten Rz. 67).
5. IV-Revision
ÜberwindbarkeitMit der 5. IV-Revision wurde Art. 7 ATSG wie folgt ergänzt: «Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist».
Invaliditätsfremde FaktorenDazu führte der Bundesrat Folgendes aus:
«Der Ausschluss invaliditätsfremder Faktoren bei der Beurteilung des Vorliegens einer Invalidität wird nun ausdrücklich im Gesetz verankert. Eine relevante Erwerbsunfähigkeit liegt somit nur in dem Ausmass vor, in dem der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten einer versicherten Person auf dem in Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt auf die gesundheitliche Beeinträchtigung selber zurückzuführen ist. Beeinträchtigen andere Gründe (sog. invaliditätsfremde Faktoren wie z.B. Alter, mangelnde schulische Ausbildung, sprachliche Probleme, sozio-kulturelle Faktoren, reines Suchtgeschehen, Aggravation usw.) die Erwerbsmöglichkeiten, so dürfen diese bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit (und damit der Invalidität) nicht berücksichtigt werden. In jedem Einzelfall ist eine klare Ausscheidung dieser Faktoren vorzunehmen.»[124]
«Die Erwerbsmöglichkeiten versicherter Personen werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Nach Artikel 7 ATSG ist ausschliesslich die durch gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachte Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen. Eine Invalidität ist demnach nicht gegeben, wenn die Erwerbsunfähigkeit nicht durch einen Gesundheitsschaden, sondern durch andere Faktoren (sog. invaliditätsfremde Gründe wie z.B. Alter, mangelnde Ausbildung, Verständigungsschwierigkeiten, reines Suchtgeschehen, soziokulturelle Umstände, Aggravation, etc.) verursacht wurde. Die Rechtsprechung hat die Bestimmung von Artikel 7 ATSG vielfältig konkretisiert und dadurch zu einer Abgrenzung der invaliditätsbedingten Erwerbsunfähigkeiten von anderen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit beigetragen (vgl. BGE 127 V 294, 107 V 21 Erw. 2c; ZAK 1989, S. 313, AHI 1999, S. 238 Erw. 1 mit Hinweisen)».[125]
Urteil LeonardelliDer Bundesrat verwies dabei auf eine Rechtsprechung, die anknüpfend an den Entscheid Leonardelli eine durchaus differenzierte Betrachtung sog. «invaliditätsfremder» Faktoren vornahm: Im Urteil des EVG vom 28. Juli 1999 (= AHI 1999, S. 237 ff.) hielt das EVG fest, dass invaliditätsfremde Gründe wie Lebensalter, Dienstalter, mangelnde Ausbildung und Verständigungsschwierigkeiten bei der Beurteilung der einer versicherten Person noch zumutbaren Arbeit zu berücksichtigen sind. Wird jedoch gestützt auf alle Umstände eine Arbeit als zumutbar erachtet, sind diese Faktoren – weil invaliditätsfremd – bei der Invaliditätsbemessung ausser Acht zu lassen. Eine solche Herangehensweise entspricht der Unterscheidung von Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit. Weiter entspricht sie Art. 16 ATSG, der durch die 5. IV-Revision nicht geändert wurde. Die Rechtsprechung hat denn auch eine gesetzliche Verschärfung des Invaliditätsbegriffs durch die 5. IV-Revision zu Recht verneint.[126]
StrukturwandelDer Bundesrat hat in einer Stellungnahme zu einem parlamentarischen Vorstoss noch im Jahr 2013 und damit nach Inkrafttreten der 5. IV-Revision (2008) zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt Folgendes festgehalten:[127]
«Bei der Berechnung des Invaliditätsgrades wird auf das Kriterium ‹ausgeglichene Arbeitsmarktlage› zurückgegriffen, um den strukturellen (und nicht den konjunkturellen) Veränderungen des Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen, beispielsweise der Produktivitätssteigerung oder dem Rentabilitäts- und Kostendruck. Diese Faktoren könnten die Integration der versicherten Person in das Unternehmen erschweren oder gar verunmöglichen und haben deshalb auch einen Einfluss auf den Leistungsanspruch der versicherten Person.»
VerhältnismässigkeitJüngst hat der Gesetzgeber die IV-Stellen ausdrücklich darauf verpflichtet, «die sprachlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der Versicherten» im Rahmen der Versicherungsleistungen zu berücksichtigen,[128] und die Rechtsprechung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in die Beurteilung der Zumutbarkeit zwingend auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen einfliessen.[129]
Zwischenfazit
ZweckDer Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes dient dem gesetzlichen Zweck, konjunkturelle Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zu bereinigen und auf Durchschnittsverhältnisse abzustellen. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist Ausfluss der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und verdeutlicht, dass das Nichtfinden einer Arbeitsstelle (Erwerbslosigkeit) in der Invalidenversicherung nicht versichert ist. Problematisch ist es nach hier vertretener Auffassung, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt mit einem fiktiven Arbeitsmarkt gleichzusetzen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht. Denn damit wird die gesetzliche Methode der individuell-konkreten Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG und Art. 28a IVG unterlaufen und durch eine theoretische und abstrakte Betrachtung ersetzt: Von den persönlichen Verhältnissen der versicherten Personen lässt sich aber in der Invalidenversicherung nicht absehen, ohne dass die Zumutbarkeit zur Zumutung wird.
FiktionAuffallend ist, dass Verwaltungspraxis und Rechtsprechung auf der Achse zwischen Realität (tatsächlicher Arbeitsmarkt) und Fiktion (abstrakter Arbeitsmarkt) über die Jahrzehnte deutlich in Richtung Fiktion gerückt sind. Das Bundesgericht führt heute wie selbstverständlich aus, die Invaliditätsbemessung der IV beruhe «auf verschiedenen Fiktionen – insbesondere einer