Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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Abb. 2: Ausgeglichener Arbeitsmarkt
Quelle: eigene Darstellung
RealitätsbezugWeiter fällt aus historischer Sicht auf, dass der bereits bei Einführung der Invalidenversicherung zentrale Grundsatz der «Eingliederung vor Rente» auch daran scheiterte, dass keine Arbeitsplatzgarantien für Behinderte oder Arbeitsplatzquoten für grössere Unternehmen vorlagen. Sie schienen bei Schaffung der Invalidenversicherung in den 1950-er Jahre überflüssig. Da in der Invalidenversicherung der Invaliditätsgrad anhand der eingetretenen (Teil-)Erwerbsunfähigkeit bestimmt wird, bezieht sich Invalidität auf den «Marktpreis» bzw. auf den monetären «Wertzerfall» der gesundheitlich beeinträchtigten Person auf dem Arbeitsmarkt.[130] Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wirken daher auf die Erwerbsfähigkeit zurück – und beeinflussen das Ausmass der Invalidität.[131] Je erfolgreicher die Arbeitsmarktintegration gelingt, desto tiefer fallen die Invaliditätsgrade aus. Diese Verknüpfung von Invalidität und Arbeitsmarktlage ist durch den Ausschluss konjunktureller Schwankungen zwar begrenzt, aber nicht aufgehoben – es sei denn, man greife zu einer fiktiven Erwerbsfähigkeit und damit zum «Wegdefinieren des Arbeitsmarktes».
VermittelbarkeitDas Abstellen auf eine fiktive Erwerbsfähigkeit hat zur Folge, dass sich die fehlende oder erschwerte Eingliederungsfähigkeit und Vermittelbarkeit von behinderten Personen auf dem realen Arbeitsmarkt einseitig zulasten der behinderten Personen auswirken. Für die betroffenen Personen bedeutet dies im Ergebnis weniger «Eingliederung vor Rente» als vielmehr «weder Eingliederung noch Rente». Eine Alternative dazu wäre, die Inklusion behinderter Personen in die Arbeitswelt wirksam zu fördern – und damit letztlich auch die Invalidenversicherung finanziell zu entlasten. Wenn sich etwa der ausgeglichene Arbeitsmarkt für an- und ungelernte behinderte Personen zunehmend verschliesst, so kann ihnen nach dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente» die Rente nur dann verweigert werden, wenn ihnen zuvor der Arbeitsmarktzugang wieder geöffnet worden ist. Ein zunehmend verschlossener Arbeitsmarkt sollte also eher Anlass sein, die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, als die Versicherten aus dem Recht zu stellen.
1 Nadai/Canonica/Koch, S. 36. ↵
2 Prinz, S. 91. ↵
3 Prinz, S. 91. ↵
4 Prinz, S. 85. ↵
5 Vgl. das Votum von Expertenseite in Protokoll der SGK-N vom 14. August 1995, S. 5, und Art. 7 Abs. 1 ATSG. ↵
6 Prinz, S. 85 f. (Hervorhebung beigefügt). ↵
7 Hugo Siefart, Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete des Versicherungswesens, 2. Aufl., Berlin 1906, S. 27 ff., abrufbar unter http://dlib-pr.mpier.mpg.de (besucht am 12. Februar 2021), u.a. mit Hinweis auf einen (gescheiterten) Antrag aus dem Jahr 1897, in der deutschen Unfallversicherung «eine Rente für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit und Erwerbsmöglichkeit» auszurichten (S. 45). ↵
8 Art. 76 f. aKUVG; Rüedi, Spannungsfeld, S. 39. ↵
9 EVGE 1936, S. 101 E. 1. ↵
10 EVGE 1936, S. 101 E. 1. ↵
11 Vgl. dazu nun auch Geertsen, Gedanken, passim. ↵
12 EVGE 1936, S. 101 E. 1 (Hervorhebung beigefügt). ↵
13 EVGE 1940, S. 120 E. 1a. ↵
14 EVGE 1940, S. 120 E. 1b. ↵
15 EVGE 1940, S. 120 (Regeste) (Hervorhebung beigefügt). ↵
16 EVGE 1940, S. 120 (Regeste ) und E. 1b. ↵
17 EVGE 1940, S. 120 E. 1b. ↵
18 Siehe dazu auch EVGE 1960, S. 249 E. 1. ↵
19 BGE 135 V 58 E. 3.4.1; Geertsen, Gedanken, S. 167. ↵
20 EVGE 1955, S. 150 E. 1 (zu Art. 77 aKUVG). ↵
21 Bericht Expertenkommission 1956, S. 114; BBl 1958 II 1137, 1197. ↵
22 BBl 1958 II 1137, 1196 (Hervorhebung beigefügt). ↵
23 BBl 1958 II 1137, 1162. ↵
24 BBl 1958 II 1137, 1197. ↵
25 BBl 1958 II 1137, 1197; die obligatorische Arbeitslosenversicherung wurde erst viel später eingeführt, siehe dazu Rz. 32. ↵
26 BBl 1958 II 1137, 1197 (Hervorhebung beigefügt). ↵
27 BBl 1958 II 1137, 1196 (zum Valideneinkommen). ↵
28 Piccard 1957, S. 123. ↵
29 BBl 1958 II 1137, 1197. ↵
30 Zuständig war die Invalidenversicherungs-Kommission nach aArt. 55 ff. IVG-1959, bestehend aus (1) einem Arzt, (2) einem Fachmann für die Eingliederung, (3) einem Fachmann für Fragen des Arbeitsmarktes