Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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ZumutbarkeitEine allzu abstrakte, d.h. von den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen weitgehend gelöste Arbeitsmarktbetrachtung strebte der Gesetzgeber indes nicht an. Dies zeigt sich daran, dass der Bundesrat bei der Bemessung von Validen- und Invalideneinkommen auf die Zumutbarkeit abstellte: Validen- und Invalideneinkommen haben sich nach den «persönlichen und beruflichen Voraussetzungen» der Versicherten zu richten.[27] In einer Publikation aus jener Zeit hielt Paul Piccard zu den Abklärungsmassnahmen in der IV fest, «[s]ie alle gipfeln eigentlich in der Frage, welche Art von Arbeit dem Versicherten zumutbar sei.»[28] Und der Bundesrat führte zum Invalideneinkommen aus: «Welche Tätigkeiten zumutbar sind, kann nicht generell festgelegt werden; es wird vielmehr auf die Verhältnisse des Einzelfalls ankommen. Man wird (…) insbesondere auf Ausbildung und bisherige Tätigkeit, Art der Behinderung, Arbeitsort, Alter und körperliche Konstitution Rücksicht nehmen müssen».[29] Dies erklärt auch, weshalb der Gesetzgeber zur Bestimmung der Invalidität eine interdisziplinäre Abklärung durch fünf verschiedene Disziplinen vorsah:[30] Eine interdisziplinäre Abklärung braucht es nur dort, wo man der Realität gerecht werden will; bei Abstraktionen und Fiktionen erbübrigen sich weitere Abklärungen.
BeispielDie Abgrenzungsproblematik lässt sich an einem Beispiel aus dem Bericht der Expertenkommission veranschaulichen. Zum einen hielt der Bericht fest, es sei «scharf» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit zu unterscheiden und daher seien äussere Faktoren wie eine «mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort» nicht erheblich.[31] Zum anderen sei aber der Arbeitsort bei der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit einzubeziehen und etwa zu prüfen, ob einem bisher in einem «abgelegenen Gebirgstal» lebenden Versicherten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zugemutet werden könne, die er nur im Tal oder gar nur in der Stadt ausüben könne. Diese Frage sei nicht generell, sondern nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei Faktoren wie familiäre Verhältnisse, Alter, Sprache, Grundbesitz, Art der Behinderung und dergleichen zu berücksichtigen seien.[32]
GratwanderungDie Gratwanderung zwischen abstrakter und konkreter Arbeitsmarktbetrachtung tritt in diesem Beispiel klar hervor: Vorübergehende, konjunkturelle Schwankungen wie etwa eine «Hotelkrise» in Tourismusregionen in den Bergen sind für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unerheblich («mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort»). Gleichzeitig stellt sich in strukturschwachen Regionen, in denen es – um im Bild zu bleiben – keine Hotels (mehr) gibt («abgelegenes Gebirgstal»), zusätzlich die Frage, ob der versicherten Person ein Wechsel des Arbeitsortes zugemutet werden kann.
Nach Inkrafttreten des IVG
Erste Entscheide
DurchschnittMit Inkrafttreten des IVG vom 19. Juni 1959 war der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes zwar im Gesetz verankert, es fehlte jedoch (und fehlt auch noch heute) eine gesetzliche Definition. Das EVG stellte im Urteil Herensperger vom 4. Oktober 1960 klar, dass der für den Versicherten in Betracht fallende Arbeitsmarkt massgebend sei, verzichtete dabei aber auf eine allgemeine Umschreibung. Das EVG knüpfte ausdrücklich an seine frühere Rechtsprechung (u.a. Urteil Arfini) an und forderte nähere Abklärungen dazu, welchen «objektiven Durchschnittsverdienst» der Versicherte u.a. unter Berücksichtigung seiner Ausbildung «auf dem ihm offenstehenden Arbeitsmarkt» erzielen könnte:[33] «Ausschlaggebend ist der dem Zustand des Versicherten entsprechende objektive Durchschnittsverdienst, während der tatsächliche Verdienst möglicherweise nur vorübergehend ist».[34]
ArbeitsmarktIn einem Entscheid aus dem Jahr 1967 verwies das EVG ebenfalls auf das Urteil Arfini und führte aus, der mutmassliche Verdienst sei nach durchschnittlichen Verhältnissen – d.h. z.B. unabhängig von Betriebseinschränkungen einerseits und Hochkonjunktur andrerseits – zu ermitteln.[35] Abzustellen ist nach einem weiteren Entscheid aus dem Jahr 1974 auf «wirtschaftlich normale Zeiten».[36] Die Rechtsprechung definierte 1960 eine «ausgeglichene Arbeitsmarktlage» als ein Zustand, in dem sich das Angebot von und die Nachfrage nach Arbeitskräften ungefähr die Waage halten.[37] Dies erläuterte das EVG in BGE 96 V 31 wie folgt:
«Es ist noch zu prüfen, ob die festgestellte Verbesserung der Erwerbsfähigkeit es rechtfertigt, den anrechenbaren Invaliditätsgrad revisionsweise auf 30% herabzusetzen, mit andern Worten, ob dieser Ansatz der durch den erlittenen Schaden verursachten ‹durchschnittlichen Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten auf dem für den Versicherten in Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt› (EVGE 1967, S. 23) entspricht (…) In konjunktureller Hinsicht sodann kommt es für die Belange der Invaliditätsschätzung auf ausgeglichene Arbeitsmarktverhältnisse an, d.h. auf eine Situation, in welcher das Angebot an Arbeitskräften und die Nachfrage nach solchen sich ungefähr die Waage halten. Wie weit der Beschwerdeführer in solcher Lage gegenüber unversehrten Industriearbeitern seiner Kategorie erwerblich deklassiert wäre, ist Ermessensfrage (…)»
Allgemeiner ArbeitsmarktIn einzelnen Fällen nahm die Rechtsprechung beim Einkommensvergleich zur Invaliditätsbemessung eine Herabsetzung des tatsächlich erzielten Invalideneinkommens vor, da dieses konjunkturbedingt zu hoch war (sog. Konjunkturlöhne).[38] Um missbräuchliche Rentenzahlungen zu verhindern, wurde auch auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt, wenn der Verdienst eine gewisse Stabilität erlangt hatte.[39] Oft sprach die Rechtsprechung auch nicht (nur) vom «ausgeglichenen Arbeitsmarkt», sondern vom «allgemeinen Arbeitsmarkt» oder vom «allgemeinen, ausgeglichenen Arbeitsmarkt».[40] Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes hatte sich in der Rechtsprechung noch nicht gefestigt. Der Begriff fand seine heutige Prägung erst in einer Zeit, als die Hochkonjunktur vorüber war und die Eingliederung von behinderten Personen erschwert wurde.
Veränderte Verhältnisse
WirtschaftskriseDer gesetzliche Auftrag der Invalidenversicherung, «Eingliederung vor Rente» anzustreben, hängt «vom Entgegenkommen und der Mithilfe unserer Wirtschaft» ab.[41] Die konjunkturelle Abkühlung in der 1970-er Jahre war daher auch eine Herausforderung für den Gesetzesauftrag der IV: Wenn die Eingliederung von behinderten Personen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht gelingt, gewinnt die Rentenfrage an Aktualität. Wirtschaftliche Krisenzeiten erschwerten denn auch seit je die Abgrenzung von Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit:[42] Die Rechtsprechung stellte aber bereits Mitte der 1970-er Jahre klar, dass rezessionsbedingte Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, nicht zu einer Invalidenrente führen sollen.[43] Dieses Risiko war über die Arbeitslosenversicherung abzudecken, die dann auch 1976 auf eidgenössischer Ebene obligatorisch erklärt wurde.[44]
SpardruckDer langjährige Leiter der IV-Regionalstelle Basel, Richard Laich, umschrieb die Situation zur Eingliederung von behinderten Personen Mitte der 1970-er Jahre wie folgt:
«Der Gesetzgeber der IV hat sich seinerzeit zum Grundsatz «Eingliederung vor Rente» entschieden und mit Eingliederung damals in erster Linie die einseitig erwerbsorientierte Eingliederung gemeint. Gerade darum hatte das Invalidenversicherungs-Gesetz überhaupt Chance, von unseren damals massgebenden Politikern angenommen zu werden, weil das IV-Konzept u. a. versprach, ein zusätzliches Arbeitskräftepotential zu erschliessen. Aber wo stehen wir heute nach 14 Jahren IV mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente»? Ist unsere Volkswirtschaft, ist unsere Arbeitgeberschaft heute bereit, den Behinderten die reale Chance einer angepassten beruflichen Eingliederung zu geben, und sind die Arbeitnehmer bereit, den behinderten Mitarbeiter zu akzeptieren und in das Betriebsgeschehen zu integrieren?
Die berufliche Eingliederung der Behinderten, d. h. die Arbeitsplatzvermittlung an die Behinderten ausserhalb von geschützten Werkstätten, bereitet uns