Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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Persönliche VerhältnisseNoch vor der Konjunkturabkühlung und ca. bis Mitte der 1970-er Jahre war vereinzelt der gegenwärtig vorhandene, konkrete Arbeitsmarkt massgebend.[46] Das EVG verwies darauf, dass bei der Frage der Zumutbarkeit einer bestimmten Erwerbstätigkeit die gesamten persönlichen Verhältnisse zu beachten seien, insbesondere auch die berufliche und soziale Stellung des Versicherten,[47] seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten von einem medizinischen Standpunkt aus, die Art der Behinderung sowie seine Kenntnisse und sein Alter.[48] Massgebend sei jedoch das objektive Mass des Zumutbaren, nicht die subjektive Wertung des Versicherten.[49]
AbstraktionParallel zur schweren Wirtschaftskrise der 1970-er Jahre ging die Verwaltungspraxis zu einer zunehmend theoretischen und abstrakten Betrachtungsweise über.[50] Das BSV führte 1975 und 1976 zwei Konferenzen über rezessionsbedingte Probleme Behinderter durch und behandelte dort namentlich auch die «Grenzfälle» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit. Der Vertreter des BSV umschrieb dabei den ausgeglichenen Arbeitsmarkt wie folgt:
«Wir betrachten jenen Arbeitsmarkt als ausgeglichen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht.»[51]
Abgrenzung zur ALVZiel der IV sei es, den durch einen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsausfall in einem gewissen Rahmen auszugleichen, während die Arbeitslosenversicherung das Risiko von Arbeits- und damit Verdienstausfällen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt seien, teilweise abdecke (konjunkturelle, strukturelle, technologische Arbeitslosigkeit).[52]
Absehen von ArbeitsmarktBemerkenswert an diesen Ausführungen der Verwaltung ist die Tendenz zum «Wegdefinierten des Arbeitsmarktes»: Während die Rechtsprechung zuvor «zufällige Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt» und damit Konjunktureinflüsse als invaliditätsfremd ausgeschieden hatte, wurde nun tendenziell vom Arbeitsmarkt als solchem bzw. von den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen abstrahiert: Die Verwaltungspraxis ging dazu über, einen Arbeitsmarkt zu fingieren, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht» (Rz. 35). Erschwernisse bei der Stellensuche von behinderten Personen – sei es aufgrund ihres Gesundheitsschadens, sei es aufgrund übriger persönlicher Verhältnisse – wurden ausgeblendet, und zwar auch dann, wenn sie sich unter «normalen» bzw. «durchschnittlichen» Arbeitsmarktverhältnissen negativ auswirkten.[53]
Historischer KontextIn den Krisenzeiten der 1970-er Jahre flammte auch erstmals die Debatte um Versicherungsmissbräuche auf.[54] Trotz der Einsetzung einer Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der Invalidenversicherung (sog. Arbeitsgruppe Lutz[55]) konnte keine Lösung für den langfristigen Kostenanstieg in der Invalidenversicherung gefunden werden.[56] Als «typische Fälle bedenkenlosen und ungerechtfertigten Rentenbezuges» erkannte die Arbeitsgruppe Lutz u.a. den «arbeitsmüden Gastarbeiter».[57] Dabei äusserte die Arbeitsgruppe vor allem auch die Besorgnis, dass angesichts des (damals) bevorstehenden BVG-Obligatoriums Rückwirkungen auf Pensionskassen und Privatversicherungen zu erwarten seien: «Ganz allgemein können bei der Invaliditätsbemessung der IV Rückwirkungen auf die Pensionskassen und Privatversicherungen nicht ausbleiben.»[58]
Wandel des Invaliditätsbegriffs?
EVG-PraxisDie verschärfte Verwaltungspraxis spiegelte sich auch in der Rechtsprechung wider. In zwei Leitentscheiden präzisierte das EVG Anfang der 1980-er Jahre zunächst die Abgrenzung zwischen Erwerbsunfähigkeit und fehlender Erwerbsmöglichkeit (Erwerbslosigkeit) (BGE 107 V 17) und ging anschliessend dazu über, von den wirtschaftlichen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt (BGE 110 V 273) stark zu abstrahieren und eine beruflich-praktische Verwertbarkeit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit vermehrt zu fingieren.
LeonardelliDas Urteil Leonardelli (BGE 107 V 17) fiel insofern differenziert aus, als das EVG nochmals klar auf die Bedeutung einer «engen, sich ergänzenden Zusammenarbeit» zwischen Mediziner und Berufsberater hinwies. Der Berufsberater habe auszuführen, «welche konkreten beruflichen Tätigkeiten aufgrund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten des Versicherten» in Frage kommen.[59] Im Rahmen der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit seien die persönlichen Verhältnisse wie die berufliche Ausbildung, die physischen und geistigen Fähigkeiten oder das Alter des Versicherten zu berücksichtigen; «indessen sind die genannten Gesichtspunkte keine zusätzlichen Faktoren, welche neben der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit das Ausmass der Invalidität mitbestimmen würden».[60] Dies lag auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung einer Abgrenzung von (versicherter) Erwerbsfähigkeit und (nicht versicherter) Erwerbslosigkeit. Etwas überschiessend erscheint die Formulierung, wonach bei der Vermittelbarkeit die «rein invaliditätsbedingten Faktoren» entscheidend seien. Massgebend war aber für das EVG im Anschluss an die bisherige Praxis folgende Überlegung: Die Erwerbslosigkeit aus invaliditätsfremden Gründen wie Alter, mangelnde Ausbildung oder Verständigungsschwierigkeiten vermag keinen Rentenanspruch zu begründen.[61]
BeyIm Urteil Bey (BGE 110 V 273) erklärte das EVG den ausgeglichenen Arbeitsmarkt zum theoretischen und abstrakten Begriff («une notion théorique et abstraite»): «Er beinhaltet einerseits ein gewisses Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften und anderseits einen Arbeitsmarkt, der einen Fächer verschiedener Tätigkeiten aufweist.»[62] Die Tragweite dieses Entscheids zeigt sich in der späteren Rechtsprechung: So führt das Bundesgericht in einer etablierten Praxislinie bis heute aus, der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» berücksichtige die konkrete Arbeitsmarktlage nicht, umfasse in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch tatsächlich nicht vorhandene Stellenangebote und sehe von den fehlenden oder verringerten Chancen Teilinvalider, eine zumutbare und geeignete Arbeitsstelle zu finden, ab.[63]
Fiktive ErwerbstätigkeitGerade die Rechtsprechung im Anschluss an das Urteil Bey zeigt, dass mit dem «Wegdefinieren des Arbeitsmarktes» (Rz. 37) durch den theoretischen und abstrakten Begriff eines ausgeglichenen (fiktiven) Arbeitsmarktes letztlich nicht nur von der Erwerbslosigkeit, sondern auch von der individuell-konkreten Erwerbsfähigkeit abstrahiert wird. Ausschlaggebend wird dann eine Art «fiktiver Erwerbsfähigkeit»: Die Erwerbsfähigkeit bestimmt sich nicht (mehr) danach, welche zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalls bestehen. Vielmehr erübrigt sich eine Abklärung der persönlichen Verhältnisse im Einzelfall, wenn ein «Arbeitsmarkt» fingiert wird, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht». Der Grundsatz der Zumutbarkeit wird so durch einen zur Fiktion erklärten ausgeglichenen Arbeitsmarkt übersteuert bzw. eingeschränkt.
Fiktive FaktenBezeichnend für die zunehmende Abstrahierung ist der Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv und damit von der Wirklichkeit zu «fiktiven Fakten», so etwa, wenn das BSV darauf abstellt, «welche praktischen Möglichkeiten der Versicherte trotz seiner Gesundheitsschädigung noch hätte, wenn eine normale Schulbildung und genügende Sprachkenntnisse vorlägen».[64] Letztlich wird dann auf einen Durchschnittstypus beruflicher Anforderungen abgestellt, der zwar den Gesundheitszustand der versicherten Person berücksichtigt, ansonsten aber von den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen im Einzelfall abstrahiert. Eine solche Invaliditätsbemessung richtet sich weniger nach persönlichen Verhältnissen als nach einem «Standardversicherten» mit Durchschnittskenntnissen und Durchschnittsfähigkeiten.[65] Dieser schleichende Wandel des Begriffs der Erwerbsfähigkeit (Art. 7 ATSG) und damit der Invalidität (Art. 8 ATSG) sticht besonders hervor, wenn man sich den Entscheid Arfini in Erinnerung