Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
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Persönliche VerhältnisseDie höchstrichterliche Praxis ist indes nicht so konsistent, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Von einem konsequenten Wechsel der Rechtsprechung hin zum (problematischen) Begriff der fiktiven Erwerbsfähigkeit kann auch bei der rentenbegründenden Invalidität nicht die Rede sein.[67] Das Gesetz bot denn auch weder früher (aArt. 28 Abs. 2 IVG) noch heute (Art. 16 ATSG) eine Grundlage zur Ausklammerung der Zumutbarkeit, weshalb Meyer/Reichmuth zu Recht Folgendes festhalten:
«Der Begriff des allgemeinen ausgeglichenen Arbeitsmarktes erfährt für die Invaliditätsbemessung insofern eine Einschränkung, als dem Versicherten nicht sämtliche gesundheitlich zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten zugerechnet werden können, sondern nur diejenigen, welche für ihn – allenfalls nach einer Eingliederung (Art. 8 ff. IVG) – nach seinen persönlichen Verhältnissen infrage kommen (BGE 130 V 343 E. 3.3). Über die Zumutbarkeit, die Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten, ist im konkreten Einzelfall zu befinden (BGE 113 V 22 E. 4a).»[68]
Zumutbarkeit als GrenzeGerade die jüngste Lehre vertritt die Auffassung, der ausgeglichene Arbeitsmarkt finde an der Zumutbarkeit seine Grenze – und nicht umgekehrt.[69] Die Invaliditätsbemessung abstrahiert zwar teilweise von der konkreten Arbeitsmarktlage und blendet die «augenblickliche Arbeitslosigkeit»[70] bzw. den konjunkturell bedingten Arbeitsausfall aus.[71] Die Erwerbsfähigkeit als solche bestimmt sich aber nach den konkreten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und nicht nach «fiktiven Fakten».
Fiktion als Regel, Realität als Ausnahme
Aktuelle ArbeitsmarktlageDie verschärfte Verwaltungs- und Gerichtspraxis blieb nicht ohne Widerspruch und Abmilderungen: Im Rahmen der 2. IV-Revision brachte eine Minderheit im Parlament erfolglos Anträge ein, den Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes zu streichen oder durch eine Bezugnahme auf die «aktuelle Arbeitsmarktlage» zu ersetzen. Die Mehrheit sprach sich dagegen aus, namentlich mit dem Hinweis, dass ansonsten nicht nur die Verminderung der Erwerbsfähigkeit, sondern auch die Verminderung der Erwerbsgelegenheit (Erwerbslosigkeit) über die IV abgedeckt werde.[72]
HärtefallrentenEine Milderung erfuhr die verschärfte Verwaltungs- und Gerichtspraxis insofern, als für die Ausrichtung einer Härtefallrente in der Invalidenversicherung vom aktuellen Arbeitsmarkt und den besonderen Verhältnissen bei der versicherten Person ausgegangen wurde.[73] Die Härtefallrente ermöglichte bei Bedürftigkeit auch den Bezug von Ergänzungsleistungen. Art. 29bis Abs. 2 IVV lautete in seiner Fassung ab 1. Januar 1988 wie folgt:
«Die Kommission legt das Erwerbseinkommen fest, das der Versicherte durch eine für ihn zumutbare Tätigkeit erzielen könnte. Dieses kann niedriger sein als das Invalideneinkommen nach Artikel 28 Absatz 2 IVG, wenn der Behinderte wegen seines fortgeschrittenen Alters, seines Gesundheitszustandes, der Lage am Arbeitsmarkt oder aus anderen nicht von ihm zu verantwortenden Gründen die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit nicht oder nicht voll ausnützen kann.»
EL auch bei ViertelsrentenMit der 4. IV-Revision wurden die Härtefallrenten abgeschafft. Dafür wurde ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen auch bei Bezug einer Viertelsrente der IV eingeführt.[74] Dabei gilt im Bereich der Ergänzungsleistungen nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz, dass das mögliche Erwerbseinkommen von teilinvaliden Personen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – wie namentlich Alter, Gesundheitszustand, Sprachkenntnisse, Ausbildung, bisherige Tätigkeit und konkrete Arbeitsmarktlage – zu ermitteln ist.[75] Das Bundesgericht unterstreicht die Abgrenzung zum Invalideneinkommen, welches «auf verschiedenen Fiktionen» beruhe.[76] Diese Regelung mag wirtschaftliche Härtefälle abfedern, jedenfalls wenn ein Anspruch auf eine Viertelsrente besteht, doch die Fiktion wird damit zur Regel in der Invalidenversicherung und die Realität zur Ausnahme für (gewisse) Härtefälle gestempelt.
Keine realitätsfremden EinsatzmöglichkeitenDas EVG ging – wie bereits erwähnt – nie in voller Konsequenz zu einer fiktiven Erwerbsunfähigkeit über, bei welcher die Realität nur noch die Ausnahme bildete. So führte das EVG schon im Jahr 1989 aus, es dürfe nicht von realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten ausgegangen werden. Von Arbeitsgelegenheiten könne nicht mehr gesprochen werden, wenn die zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form möglich sei, dass sie der allgemeine Arbeitsmarkt nicht kenne oder nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wäre und das Finden einer solchen Stelle deshalb zum Vornherein als ausgeschlossen erscheine:[77] «Im Rahmen der Selbsteingliederung dürfen von einem Versicherten nicht realitätsfremde und in diesem Sinne unmögliche oder unzumutbare Vorkehren verlangt werden».[78] So erachtete es das EVG als unrealistisch, dass ein als Maler und Bodenleger tätig gewesener Versicherter ohne jegliche Vorbereitung eine Stelle in einem Büro annehmen könne.[79]
Berufspraktische AbklärungDer Wandel hin zur fiktiven Erwerbsunfähigkeit zeigt sich gut in der veränderten Stellung der berufspraktischen Abklärungen. Noch bis zum Entscheid Leonardelli unterstrich das EVG die hohe Bedeutung solcher Abklärungen: «Der Arzt sagt, inwiefern der Versicherte in seinen körperlichen bzw. geistigen Funktionen durch das Leiden eingeschränkt ist (…). Der Berufsberater dagegen sagt, welche konkreten beruflichen Tätigkeiten aufgrund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten des Versicherten in Frage kommen (…)».[80] In aktuellen Entscheiden sind diese Ausführungen deutlich abgeschwächt,[81] in der Regel wird sogar den «objektiven» medizinischen Abklärungen klar der Vorrang eingeräumt.[82]
Praktische VerwertbarkeitBei der Schaffung beruflicher Abklärungsstellen (BEFAS) im Jahr 1980 umschrieb das BSV ihre Aufgabe wie folgt: «[W]as sind mögliche und zumutbare leichte Arbeiten, in welchem Umfange und mit welchen Lohnchancen können diese in der freien Wirtschaft verrichtet werden?»[83] Geklärt werden sollte die «praktische Verwertbarkeit von noch vorhandener Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt».[84]
Genaue Abklärungen im EinzelfallBereits 1985 hat der damalige Leiter der BEFAS in Horw (Luzern) darauf hingewiesen, dass die möglichst genaue Kenntnis der wirklichen Arbeits- und Berufsanforderungen «zentrale Grundvoraussetzung» für alle ist, die eine Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit zu beurteilen haben.[85] Die berufliche Abklärung setzt genaue, objektive und zuverlässige Kenntnisse über die Bedingungen der Arbeits- und Berufswelt voraus,[86] welche im Einzelfall abzuklären sind. Je stärker indes Verwaltungs- und Gerichtspraxis den Arbeitsmarkt wegdefinieren, desto entbehrlicher werden berufspraktische Abklärungen. So rief das BSV bereits im Jahr 1986 in Erinnerung, dass die BEFAS nur «in besonderen Fällen» beizuziehen sind.[87]
Fokus: Abgrenzung und Bezüge zur Arbeitslosenversicherung
Abgrenzung Leistungsbereich IV/ALVStandardmässig wird in Gerichtsentscheiden ausgeführt, der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» diene dazu, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen.[88] In der Tat hat denn auch bereits der Gesetzgeber bei der Schaffung der Invalidenversicherung auf die Bedeutung einer Abgrenzung zwischen (gesundheitlich bedingter) Erwerbsunfähigkeit (= IV) und anderweitig bedingter Erwerbslosigkeit (= ALV) hingewiesen.[89] Schon vor der Schaffung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung auf eidgenössischer Ebene im Jahr 1976 war eine klare Trennung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung gesetzlich gewollt;[90] sie entsprach bereits bei der Schaffung der Invalidenversicherung der konstanten EVG-Praxis[91]. Der Wandel des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit lässt sich deshalb nicht mit der Schaffung des Obligatoriums der Arbeitslosenversicherung auf Bundesebene erklären.
Vermittlung BehinderterIn anderer Hinsicht bestehen dagegen Bezüge zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung, und zwar bei der Vermittlungsfähigkeit