Gesang der Lerchen. Otto Sindram
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Der Zug bis zur Zonengrenze war nicht so überfüllt wie der Zug am Tage zuvor. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Helmstedt, der Endstation in Westdeutschland, boten Menschen mit Handwagen ihre Dienste an, um das Gepäck der Reisenden zur Grenzstation zu fahren. Philipp verhandelte mit einer Frau über den Preis.
»Geben Sie mir, was Sie haben; drüben dürfen Sie sowieso kein Westgeld besitzen.«
Er gab und schüttete dazu noch das Hartgeld aus seiner Börse in ihre offen gehaltenen Hände. In Berlin, das wusste er, gab es ja sofort das erste Stipendium in Ostmark. Vor dem Schlagbaum auf der Westseite nahm er sein Gepäck aus dem Wagen und reichte dem britischen Grenzposten seinen Interzonenpass. Der drückte einen Stempel darauf und reichte ihn zurück.
»Good bye!«
Philipp schleppte sich mit dem Gepäck durch einige hundert Meter Niemandsland zum sowjetischen Schlagbaum und dem Grenzposten, zeigte wieder seinen Interzonenpass und dazu die Aufnahmebescheinigung der Universität.
»Nix gutt, Stempel nix rund«, sagte der Posten, deutete auf die Bescheinigung und gab die Papiere zurück.
Alle Verhandlungsversuche von Philipp führten nicht weiter.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er.
»Du gehen zu-chause!«
»Dann will ich den Kommandanten sprechen!«
»Nix Kommandant, ich Kommandant«, sagte der Posten, deutete auf seine Brust und nahm eine drohende Haltung ein.
Philipp musste zurück. Ratlos saß er in dem Niemandsland auf seinen Sachen. Menschen gingen von Schlagbaum zu Schlagbaum an ihm vorbei und sahen seine verzweifelte Lage.
»Wenn Sie den Kommandanten sprechen wollen«, sagte ein Mann, »dann gehen Sie doch einfach seitlich in den Wald. Alle, die beim illegalen Grenzübertritt geschnappt werden, kommen nach Marienborn und werden dort verhört.«
Was bleibt mir übrig?, dachte Philipp.
Er setzte den Rucksack auf, legte den Sack mit dem Federbett quer darüber, nahm die beiden Koffer und ging in den Wald. Nach zehn Minuten war er immer noch frei. Einige Male stellte er die Koffer ab, lehnte sich erschöpft an einen Baum, nahm sie nach kurzer Zeit wieder auf und ging weiter.
Endlich kam er an eine Mulde und sah, dass dort mehr als ein Dutzend Menschen, jung und alt, auf ihrem Gepäck oder auf dem Boden hockten. Am Rande der Mulde saß ein Sowjetsoldat mit einem Gewehr auf den Knien, schaute teilnahmslos über die Menschen hinweg und rauchte. Als er Philipp sah, gab er ihm gelangweilt ein Zeichen mit der Hand, sich zu den anderen zu setzen. Philipp war froh, sich ausruhen zu können und gehorchte.
Eine ganze Weile geschah nichts weiter. Die Menschen starrten vor sich hin und schwiegen oder redeten leise miteinander. Es roch nach Harz und nach Pilzen. Zwei Sowjetsoldaten kamen mit einer jungen Frau, die einen kleinen Rucksack trug und sich auch zu den anderen setzen musste.
Die beiden Soldaten sprachen Russisch mit dem Posten und gingen bald wieder. Die junge Frau flüsterte mit einigen der anderen Wartenden. Philipp fiel ihr schönes, aber verschmutztes Gesicht auf. Als sie seinen Blick bemerkte, rutschte sie näher zu ihm hin und sprach ihn an.
»Wenn wir verhört werden, kann ich dann sagen, dass ich zu Ihnen gehöre?«
»Warum?«, fragte Philipp zurück.
»Ich habe Angst vor den Russen«, flüsterte sie.
Er versuchte sie zu beruhigen.
»Wir sind nicht mehr im Krieg mit ihnen; sie tun nur ihre Pflicht. Haben Sie darum ein so beschmutztes Gesicht?«
»Ja.«
»Glauben Sie denn wirklich, dass das hilft? Ich kann mir gut Ihr Gesicht gewaschen vorstellen. Aber wenn es Sie beruhigt: Wir gehören zusammen.«
»Danke«, sagte die Frau.
Trotz ihrer Angst zeigte sie dabei ein so wunderschönes Lächeln, dass Philipp ganz vergaß, in welcher Lage er selber war. Sie berichtete ihm, dass sie heute zum ersten Mal Russen sehe und dass sie nach Leipzig wolle, um ihren Verlobten zu besuchen. Und dann erzählte sie die Geschichte ihrer Liebe: Schon als Kind habe sie für einen drei Jahre älteren Nachbarjungen geschwärmt. Als der dann mit siebzehn Jahren Soldat wurde, in Russland kämpfte und dort in Gefangenschaft geriet, habe sie oft für ihn gebetet. Es habe geholfen. Vor einem Jahr, nach zwei Jahren Gefangenschaft, sei er endlich heimgekehrt. Alles wurde gut. Sie verliebten sich ineinander und verlobten sich. Er begann ein Ingenieurstudium, und sie studierte Musikwissenschaft. Ihr Vater, ein angesehener Anwalt in Münster, und ihre Mutter, eine ausgebildete Klavierlehrerin, akzeptierten ihre Wahl. Seine Eltern, Inhaber eines seit der Währungsreform wieder gut gehenden Konfektionsgeschäftes, liebten ihre künftige Schwiegertochter. Und dann sei ihr Verlobter vor einer Woche in die Ostzone gefahren. Aus Leipzig habe sie vor zwei Tagen einen Brief bekommen, in dem er sie um Vergebung bat. Er besuche dort ein Priesterseminar und komme nicht zurück in den Westen. Bete für mich, habe er geschrieben.
»Und an allem sind die Russen schuld!«, seufzte sie verzweifelt und klimperte dabei mit den langen Wimpern. Philipp wollte noch antworten, dass die Russen wohl kaum daran interessiert sein werden, in ihrer Zone möglichst viele Priester zu haben, aber da sah er, dass zwei ostdeutsche Polizisten auf die Gruppe zukamen.
»Wir müssen uns duzen. Wie heißen Sie, du?«
»Eva.«
»Philipp«, sagte er. »Wisch dir den Schmutz aus dem Gesicht!«
Da waren die Polizisten schon bei ihnen. Alle mussten ihr Gepäck aufnehmen und auf der Autobahn Richtung Marienborn gehen. Ein Polizist ging voraus, der zweite hinterher. Eva trug das Federbett, indem sie den Sack mit beiden Armen umschlang und an ihren Busen drückte.
Philipp wunderte sich, dass keine Autos auf der Autobahn waren. Aber dann erinnerte er sich daran, gehört zu haben, dass die Sowjets ja schon seit über drei Monaten alle Zufahrten nach Westberlin blockiert hielten.
Der Weg war lang. Die Koffer wurden immer schwerer, Philipp musste sie öfter abstellen. Eva und er bildeten bald das Ende der Gruppe. Bei der nächsten Rast wurde der hinter ihnen gehende Polizist ungeduldig.
»Da sind wohl Steine drin?«
»Bücher«, sagte Philipp.
»Schmeiß doch den Kram in den Graben, dann geht’s schneller!«
Volkspolizei,