Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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und in die Augen. Eva aber ging leichtfüßig an seiner Seite und redete unentwegt von ihren Plänen, von ihrer Fahrt bis hierher und von ihrer Heimatstadt Münster.

      Sie will wohl ihre Angst vertreiben, vermutete Philipp. Als Letzte erreichten beide Marienborn und die Schule, in der die Gruppe in einen Klassenraum geführt und eingeschlossen wurde. Eva und Philipp ließen sich gleich hinter der Tür auf ihrem Gepäck nieder. Bald schon öffnete sich die Tür wieder.

      »He, Bücherwurm, komm!«, sagte der Polizist und deutete auf Philipp.

      »Kann meine Braut mitkommen?«

      Wie leicht ich »meine Braut« sagen kann, dachte er.

      »Meinetwegen, los, los!«

      Sie wurden in einen kleineren Raum und vor den Schreibtisch eines sowjetischen Offiziers geführt. An der Wand hinter dem Schreibtisch befand sich eine rote Fahne und daneben hing ein Bild, auf dem Stalin an ihnen vorbei in die Ferne schaute. Philipp zeigte seine Papiere. Der Offizier warf einen kurzen Blick darauf.

      »Was Sie wollen hier? Fahren nach Berlin! Gutt Reise!«

      »Darf meine Braut auch mitkommen?«

      »Bitte Papiere!«

      Eva reichte ihm ihren Personalausweis.

      »Mehr Papiere!«

      »Mehr hab ich nicht.«

      »Sie nicht mehr Papiere, dann zuruck nach − er schaute in ihren Ausweis − Muuunster.«

      »Nein!«, rief Eva. »Ich lasse dich nicht allein fahren, nein, nein!«

      Und damit umschlang sie Philipp mit beiden Armen, so wie sie vorher den Sack mit dem Federbett umschlungen hatte. Sie küsste ihm die Wangen, die Stirn, die Augen, den Mund und den Hals.

      »Verlass mich nicht, Liebster, Bester, mein Schatz, nimm mich mit, bitte, bitte!«

      Philipp spürte ihren Busen, ihren warmen Körper, war überwältigt und einen Moment wie gelähmt von so viel Zärtlichkeit, fand aber bald Gefallen daran und küsste zurück. Die beiden Männer schauten amüsiert zu. Endlich unterbrach der Offizier diesen Ausbruch von Leidenschaft und grinste.

      »Dann muss wohl gehen Liebster auch nach Westen wieder.«

      Damit gab er dem Polizisten ein Zeichen, dass für ihn die Angelegenheit erledigt sei. Der Polizist schob das Paar in den Flur, schloss die Tür zu einem weiteren Klassenraum auf und drängte zu einer Entscheidung.

      »Was denn nun? Wenn Sie beide zurück wollen, dann hopp, hier hinein!«

      Philipp machte einen Schritt rückwärts. Eva versuchte noch einmal das Sackumklammerungsverfahren, küsste Philipp stürmisch und bat mitgenommen zu werden. Als sie aber das ungerührte Gesicht des Polizisten sah, änderte sie ihr Verhalten.

      »Dann komm mit zurück!«, sagte sie und versuchte Philipp durch die geöffnete Tür zu ziehen. Erschrocken wich er weiter zurück.

      »Bist du verrückt!«

      Er hatte plötzlich kein Verlangen mehr nach ihren falschen Küssen. Da schubste sie ihn von sich, nahm ihren Rucksack und ging stolz und schön auf den geöffneten Raum zu.

      »Auf Wiedersehen!«, rief Philipp ihr hinterher.

      Eva aber antwortete nicht, machte, ohne sich noch einmal umzudrehen, eine wegwerfende Handbewegung und verschwand hinter der Tür. Der Polizist schloss ab und schüttelte den Kopf.

      »Weiber, da soll sich einer auskennen!«

      »Ja«, stimmte Philipp zu, »da soll sich einer auskennen.«

      An diesem Tag kam Philipp bis Magdeburg. Wieder war es fast Mitternacht, als er den Wartesaal betrat. Überall saßen, hockten und lagen Menschen, die einen kleinen Platz für die kurze Nacht gefunden hatten und schliefen oder schweigend schauten, was um sie herum geschah. Eine alte Frau machte Philipp ein wenig Platz. Er stapelte sein Gepäck, so dass er darauf sitzen und sich etwas ausruhen konnte. Dann aß er von dem Kuchen, den die Mutter ihm mitgegeben hatte.

      »Sie sind aus dem Westen, das sieht man gleich«, sagte die alte Frau, »einen so schönen Kuchen gibt es bei uns nicht.«

      Philipp gab ihr ein Stück und bat sie, einen Moment auf seine Sachen zu achten. Im Toilettenraum trank er Leitungswasser, und erst als sein Durst gestillt war, merkte er, dass es faulig und stark nach Chlor schmeckte.

      In der Nacht fand er keine Ruhe. Das Schnarchen der alten Frau störte ihn; sie schlief mit offenem Mund und zeigte dabei ihr fehlerhaftes Gebiss. Menschen gingen im Saal hin und her und stiegen über die Schlafenden.

      Philipp musste an die Tränen der Mutter denken und an den Vater. Jetzt war ihr Sohn also ein Russe. Er dachte an Eva, an ihre Russenangst und ihre falschen Küsse. Immerhin hatte sie einen »Russen« geküsst. Er musste schmunzeln.

      Noch vor Morgengrauen nahm er sein Gepäck und ging auf den Bahnsteig. Die kühle, frische Luft des frühen Tages war angenehm. Er atmete einige Male tief durch. Im Osten sah er, wie die Wolken sich röteten und die bald aufgehende Sonne ankündigten.

      Am frühen Nachmittag fuhr der Zug durch die Vororte Berlins. Berlin! Philipp hatte in den drei Jahren nach dem Kriege vieles über diese Stadt gehört und gelesen. Jetzt sollte er sie selber kennen lernen, ja sogar darin wohnen. Der Zug fuhr über Wannsee, Grunewald und Charlottenburg. Philipp sah die vielen Spuren des Krieges: zerstörte Häuser und Straßen voller Schutt. Aber das kannte er schon aus dem Ruhrgebiet. Ihn beeindruckte mehr die Größe der Stadt und das viele Grün, das trotz der Kriegsschäden und der fortgeschrittenen Jahreszeit in allen Stadtteilen noch zu sehen war.

      Im Bahnhof Zoologischer Garten endete die Fahrt. Philipp musste umsteigen in die S-Bahn, um nach Ostberlin zu kommen. Er stellte seine Koffer und den Sack auf der Plattform des Wagens in eine Ecke und suchte sich einen Platz, von dem aus er das Gepäck noch sehen konnte. So kurz vor dem Ziel wollte er kein Risiko mehr eingehen.

      Die Bahn fuhr an und hielt wieder an der Station Tiergarten. Der Wagen füllte sich schnell mit Menschen. Das ist wohl schon der frühe Feierabendverkehr, dachte Philipp und staunte über den schnellen Aus- und Einstieg der Fahrgäste und über die Türautomatik. Auf dem Bahnsteig mit dem fremdklingenden Namen Bellevue sah er plötzlich einen Mann mit seinem Federbett stehen. Der Mann musste den Sack beim Aussteigen mitgenommen haben. Philipp sprang auf, drängte sich durch die Zugestiegenen, war mit einem Satz draußen, entriss dem Mann den Jutesack, hörte im Lautsprecher die befehlende Stimme »Zurückbleiben!« rufen, sprang mit dem Sack zurück in den Wagen, die Türen schlugen zu und der Zug fuhr an. Durch das Glas der Wagentür sah er noch das fassungslose Gesicht des »Diebes«, dann war der Mann mitsamt der Station verschwunden.

      Philipp atmete auf, bahnte sich einen Weg zu der Ecke, um den Sack an seinen Platz zurückzustellen. Aber da stand schon einer. Erst jetzt bemerkte er, dass der »gerettete« Sack kleiner war und auch schwerer. Er schämte sich und war ratlos. Vorsichtig versuchte er in den Gesichtern der anderen Fahrgäste zu ergründen, was sie von seiner Aktion mitbekommen hatten. Aber alle schauten teilnahmslos vor sich hin. Da versuchte er auch ein teilnahmsloses Gesicht aufzusetzen. Am Bahnhof Friedrichstraße ließ er einfach den zweiten Sack stehen, stieg aus und fragte nach dem Weg zur Universität.

      Vom

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