Ein Bier, ein Wein, ein Mord. Susanne Mischke

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Ein Bier, ein Wein, ein Mord - Susanne Mischke

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Zettel für das Mörderraten-Gewinnspiel waren von der Bedienung längst verteilt worden. Doch Hannes hatte bisher lediglich seinen Namen und die Mail-Adresse notiert. Es war 20:58 Uhr. Zwei Minuten Zeit hatte er noch. Seine Taktik war es, stets bis wenige Sekunden vor Ablauf der Frist zu warten, um dann erst den vermeintlichen Täter zu notieren. Oft hatte sich genau in diesen wenigen Sekunden ein neuer Wissensstand ergeben, der ihm das Raten leichter machte.

      Auf der Leinwand schlich gerade der Zuhälter der ermordeten Prostituierten durch einen mondbeschienenen Eichenwald. Er wurde von einem Mann mit Fernglas beobachtet, der am Fuße einer Hochsitzleiter stand. Der heimliche Beobachter trug einen Forsthut, eine langen Lodenmantel und eine Büchse über der Schulter. Zu seinen Füßen kauerte ein kurzläufiger Schweißhund.

      Hannes entschied sich für den Jagdaufseher.

      *

      Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht näherte sich auf der Marienstraße aus Richtung Pferdeturm.

      »Die Bullen!«, kam es unter dem Helm hervor. Eine tiefe, jedoch unverkennbar weibliche Stimme versuchte das Tuckern des im Leerlauf laufenden Motorrads zu übertönen. Im Inneren der Tankstelle tat sich nichts. Hektisch betätigte die Sozia die Hupe am Lenker.

      Ihr Kumpan fuhr herum, er hatte verstanden. Mit einem raschen Griff über den Tresen riss er der Kassiererin den Rucksack aus der Hand und spurtete nach draußen. Dort übernahm sie den Rucksack und überließ ihm im Gegenzug den Lenker. In Windeseile – jeder Handgriff wirkte wie einstudiert – bestiegen sie nacheinander die Maschine und rasten los. Zurück in Richtung Stolzestraße

      Ohne auf den Gegenverkehr zu achten, nahm in diesem Moment der Streifenwagen mit quietschenden Reifen die Tankstelleneinfahrt. Das davonbrausende Motorrad zunächst ignorierend, stoppten die Polizisten unmittelbar vor der Schiebetür, die sich gerade öffnete. Die Kassiererin trat heraus und fuchtelte wild mit den Armen.

      Der Streifenwagen nahm erst die Verfolgung auf, nachdem sich die beiden Polizisten überzeugt hatten, dass die Kassiererin keiner Ersten Hilfe bedurfte und wohlauf war. Dadurch gewannen die Flüchtenden wertvolle Sekunden. Ihr Vorsprung war mehr als komfortabel.

      Nichtsdestotrotz rasten sie mit höllischer Geschwindigkeit durch die enge Häuserschlucht der Stolze­straße in Richtung Südstadt. Die Frau auf dem Rücksitz schaute sich mehrmals um, konnte jedoch keinen Streifenwagen entdecken. Beruhigend klopfte sie ihrem Vordermann auf die Schulter.

      Kurz bevor sie am Kalabusch in die Sallstraße einbogen, passierte es. Eine Katze huschte von links nach rechts über die Fahrbahn. Waren es nun der Schreck, die nasse Fahrbahn oder rutschiges Laub – vielleicht auch alles zusammen – jedenfalls kamen sie durch das plötzliche Bremsmanöver heftig ins Rutschen. Der Fahrer verlor die Kontrolle über sein Motorrad. Trotz deutlich reduzierter Geschwindigkeit kippte die Maschine zur Seite und schlidderte unter ein parkendes Auto.

      Zum Glück für das Räuberpaar verlief der Sturz glimpflich. Sie waren sofort wieder auf den Beinen und kümmerten sich um das Motorrad. Die Maschine lief zwar noch, hatte sich jedoch unter der Auspuffanlage des parkenden Autos verkeilt. Trotz größter Anstrengung bekamen sie das Motorrad nicht hervorgezogen.

      »Verdammte Scheißkarre!«, fluchte der Mann und trat nach dem Hinterrad.

      »Lass es!« Die Frau keuchte. »Wir müssen zu Fuß weiter.«

      Im Hintergrund war ein Martinshorn zu hören, dessen Lautstärke rasch zunahm.

      Sie ließen vom Motorrad ab und hetzten über die Straße. Geduckt, hinter den parkenden Autos Schutz suchend, liefen sie weiter. In dem Moment, als sie den Nebeneingang vom Kalabusch passierten – den durch den Garten –, kam der Streifenwagen um die Ecke gebogen.

      *

      Beim Tatort hatte es soeben eine zweite Leiche gegeben. Der Zuhälter war von einer Motorsäge zerstückelt worden. Einige Zuschauer stöhnten auf. Hannes vermutete, dass es jene waren, die auf den Getöteten als Mörder gesetzt hatten. Die waren jetzt außen vor. Er lehnte sich zufrieden zurück und bestellte ein weiteres Weizen. Er war noch im Rennen.

      Der Krach auf der Straße direkt vor dem Kalabusch kümmerte niemanden. Als Innenstadtbewohner war man den Lärm von Martinshorn und Feuerwehrsirenen gewohnt.

      Dem Pärchen, das gerade die Wirtsstube durch den Seiteneingang betrat, schenkte ebenfalls kaum jemand Beachtung. Hannes war einer der wenigen, der sie bemerkte. Sie waren jung, vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig, trugen schwarze Motorradkleidung und ihre Integralhelme unterm Arm. Die Frau hielt zudem einen Rucksack mit der rechten Hand fest umklammert. An einem lausig kalten Novemberabend sind Biker schon ungewöhnlich, befand Hannes, der ein Faible für Motorräder hatte.

      Der Mann setzte sich neben ihn auf einen freien Stuhl, während die Frau Richtung Toilette verschwand. Den Helm schob sein neuer Nachbar unter den Stuhl; danach zog er seine Lederjacke aus. Immer wieder wandte er den Kopf zur Tür. So, als ob er noch jemanden erwartete.

      Während er weiter dem Tatort zuschaute, registrierte Hannes aus den Augenwinkeln, dass an der Stirn des Motorradfahrers schweißnasse Haarsträhnen klebten. Auffallend war auch, dass die Lederhose des Mannes am rechten Oberschenkel und an der Wade frische Dreckspuren aufwies.

      Professor Karl-Friedrich Boerne machte seiner kleinwüchsigen, aber nicht auf den Mund gefallenen Assistentin Alberich gerade wieder einmal grundlos Vorhaltungen – das Publikum im Kalabusch lauschte andächtig –, als zwei Polizisten in Uniform die Gaststätte betraten. Der eine hielt eine Stabtaschenlampe in der Hand, der andere ein knatterndes Funkgerät.

      »Ihr seid im falschen Film«, rief ihnen jemand zu. Gelächter war die Folge, einer buhte, »Pssst!«, raunte ein anderer. Der Wirt trat zu den beiden Ordnungshütern und erkundigte sich nach dem Grund ihres Auftauchens.

      Derweil war Hannes aufgefallen, dass sich alle Welt nach den Polizisten umgedreht hatte – bis auf eine Ausnahme: sein neuer Nachbar. Dieser starrte wie hypnotisiert auf die TV-Leinwand vor sich und rührte sich nicht.

      »Hey, Sie da!«, rief da einer der Polizisten.

      Im gleichen Moment bekam Hannes einen Schlag gegen die Schulter und flog vom Stuhl. Der Motorradfahrer war unvermittelt aufgesprungen, hatte ihn und einen weiteren Gast gerammt und war auch schon zur Tür hinaus.

      Die beiden Polizisten stürmten hinterher, die Gäste im Kalabusch johlten.

      »Na, alles okay?«, fragte der Wirt, nachdem Hannes sich wieder aufgerappelt und auf seinem Stuhl niedergelassen hatte.

      »Ja, ja!« Hannes winkte ab. »Ist nichts weiter. – Um was ging’s denn?«

      »Tankstellenüberfall«, flüsterte der Wirt. »In der Marienstraße …«

      »Pssst!«, zischte jemand. Der Tatort ging in seine finale Phase.

      *

      Da entdeckte Hannes die Frau. Die Motorradjacke hatte sie abgelegt, auch den Rucksack trug sie nicht mehr bei sich. Ihre zuvor mit einem Schlauchtuch gebändigten rotblonden Haare trug sie nun offen. Sie hatte herrliche Locken. Mit sorgenvoller Miene schaute sie sich in der Gaststätte um.

      Hannes’ Herzschlag beschleunigte sich. Nicht wegen der ausnehmend hübschen und feinen Gesichtszüge der jungen Frau. Ihn interessierte vielmehr, wo der Rucksack geblieben war.

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