Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Horrende Summen, den Banken von den Regierungen zur Verfügung gestellt, ermöglichten vor allem im US-Bankenwesen den Konzentrationsprozess und verhinderten weitere Zusammenbrüche. Dennoch verharrten in den westlichen Metropolen das Kreditwesen und damit der ökonomische Prozess insgesamt wie gelähmt. »Die Konsumenten konsumieren nicht, die Arbeitgeber stellen keinen ein, die Anleger legen nichts an, und die Banken geben keine Darlehen«, beschrieb Ende 2008 der Chef der spanischen Nationalbank, Miguel Ángel Fernández Ordoñez, die Situation nicht nur seines Landes. »Es herrscht eine fast totale Lähmung, der sich niemand entziehen kann.« An allen Ecken und Enden sprachen die Frühindikatoren dieselbe Sprache. Der Seetransport-Index (»Baltic Dry Index«) war seit Mai 2008 um 95 Prozent zurückgegangen (Crespo 2008), das heißt, die Frachtpreise waren ins Bodenlose gefallen.19 Dabei gilt dieser Kurs im Gegensatz zu dem von Wertpapieren und Rohstoffen als unbeeinflusst durch Spekulation. Der Welthandel war tatsächlich dramatisch eingebrochen. Das lag nicht primär an schrumpfender Nachfrage, sondern am Ausbleiben von Krediten für den Außenhandel. Die Waren zirkulieren ja erst, wenn sie bezahlt sind; doch der Erlös kann erst kommen, wenn sie am Zirkulationsziel sind. Der Seetransport braucht aber Zeit. Und der Empfänger braucht weitere Zeit, bis Geld aus der Verwertung der betreffenden Güter an ihn zurückfließt. Die Überbrückung leistet der Kredit. Da dieser nun stockte, stockte bei Industrieausrüstungen, Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten nicht nur der Handel, sondern auch die Produktion, und sie stockte an beiden Enden der Transaktionskette, dem der Lieferanten wie dem der Belieferten. Am Weltmarktpreis der Basisressource des globalen kapitalistischen Zivilisationsparadigmas, des Rohöls, ließ sich die Wirkung ablesen. Seit dem Sommer 2008 war er binnen eines knappen halben Jahres um rund 75 Prozent abgesackt. Nun ging das Gespenst der Deflation um – die Ökonomen befürchteten den Übergang von der »Rezession« zur »Depression«. Die Zentralbanken antworteten mit einer Politik des billigen Geldes. Auch der Zinsfuß des Geldes, das sie den Geschäftsbanken zur Verfügung stellten, war quasi »mit null multipliziert«. Aber hatte nicht gerade billiges Geld im Vorfeld das Krisenpotenzial weiter aufgepumpt?
19 Allerdings von einem aufgrund des Ölpreises vom Frühjahr/Sommer 2008 sehr hohen Niveau.
4. Die Finanzmacht interveniert in den Staat
Bruch und Wende in der herrschenden Politik und Ideologie waren nicht von den verschreckten Menschen ausgegangen, sondern diese hatten sich vorderhand um ihre Regierungen geschart, die es darauf anlegten, aus dem Krisenmanagement hegemonialen Honig zu saugen. Sieht man von der im Nachhinein wie eine Fata Morgana wirkenden Mobilisierungsphase des Wahlkampfes von Barack Obama von 2008 ab, dessen Sieg als »Eroberung des Winterpalastes in moderner und US-amerikanischer Version« (Caño 2008) gefeiert worden ist – wir kommen darauf im 8. Kapitel zurück –, so hatte die notgetriebene Wandlung der neoliberalen Regierungen vom Saulus zum Paulus sich als passive Revolution vollzogen. Eine ›Revolution‹ war es, weil die regierende Rechte in einer abrupten Wende der von links geforderten Rückkehr zum Staatseingriff ins ökonomische Geschehen nachkam. Passiv war sie im doppelten Sinn. Die arbeitende Bevölkerung wurde mit paternalistischen Gesten, die ins Steuergeld gingen, stillgestellt, ihr Zorn wurde mit populistischer Rhetorik aufs Stereotyp des gierigen Bankers abgelenkt. Dies war die eine Seite. Den mit Steuergeldern geretteten Banken gegenüber jedoch blieb es, was die im Gegenzug durchzusetzenden sozialen Ansprüche anging, bei Worten. Indem ihre Verluste mit öffentlichen Mitteln verstaatlicht worden waren, hätten ja eigentlich die Banken selbst unter öffentliche Kontrolle kommen müssen. Stattdessen wurden sie staatlicher Nichteinmischung versichert. In der Sache einer Umorientierung des Kreditwesens im öffentlichen Interesse blieben die Regierungen passiv. Jede fürchtete, regulatorische Aktivität würde in der allgemeinen Standortkonkurrenz zur Abwanderung profitabler Finanz-Geschäftszweige führen. Denn die G 20 hatten ihren Schwur vom September 2009 in Pittsburgh, in koordinierter Aktion finanzregulatorisch aktiv zu werden, gebrochen.20 Erst recht taten sie nichts gegen die Ungleichgewichte im Welthandel. Die allgemeine Konkurrenz dominierte ihr Verhalten. Der ökonomische Ausnahmezustand hatte nicht dazu geführt, die nationale Konkurrenz in weltwirtschaftlicher Perspektive auszusetzen.21
20 »The Pittsburgh announcement could go down in history as the beginning of the G-20’s journey toward sheer irrelevance […]. Reform of financial systems has proceeded unilaterally, not cooperatively.« (Brown/González/Zedillo 2011)
21 »It should have been obvious at the outset that the largest contributors to the global macroeconomic imbalances – such as the United States, China and Germany – would try all along the way to influence the process in order to minimize their respective share of correcting those imbalances which are standing in the way of sustained growth.« (Brown/González/Zedillo 2011)
Diese Passivität in den entscheidenden strategischen Fragen war es, was den Prozess ins Gegenteil umschlagen ließ. Der Staat rettete die Banken. Damit rettete er die Finanzmärkte. Aber er rettete sie auf die paradoxe Weise, sich bei diesen zu verschulden. »Im Effekt verschob sich die Hauptlast der Krise von den Banken auf die Staatsschulden.« (Harvey 2011, 262) Letztere machten einen »Quantensprung« durch.22 War die Krise eine des privaten Kreditwesens, so wurde sie wiederum durch Kredit nicht gelöst, sondern auf die dieses rettende öffentliche Hand verschoben. In der Folge machte sich der Zeitsinn der Bankenrettung durch Staatsverschuldung geltend, momentanen Frieden mit dem vorgezogenen Konsum künftiger Ressourcen und um den Preis künftiger Konflikte zu erkaufen. Die Zukunft der Nöte und der diesen entspringenden Konflikte begann schon am folgenden geschichtlichen Tag. Die »Märkte« wurden zum Pseudonym einer »dunklen Macht«23, von der man mit einem Wort Wilhelm Liebknechts, einem der marxistischen Gründungsväter der Sozialdemokratie, sagen kann, dass sie die Staaten an der Schlinge der Schuldknechtschaft führten. Dabei hatte sich die Staatsverschuldung seit Liebknechts Zeiten vervielfacht, so dass selbst »kleine Zuwächse im Zinssatz […] fiskalisches Unheil« anzurichten vermögen (Streeck 2011, 22). Was immer ein Staat in dieser Lage tun würde, er würde es ›im Griff der Märkte‹ tun, die ihn aufs Signal der Rating-Agenturen hin mit Zinserhöhungen vor sich hertrieben.
22 »The quantum leap in public indebtedness after 2008, which completely undid whatever fiscal consolidation might have been achieved in the preceding decade, reflected the fact that no democratic state dared to impose on its society another economic crisis of the dimension of the Great Depression of the 1930s, as punishment for the excesses of a deregulated financial sector.« (Streeck 2011, 20)
23 »Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten haben ›die Märkte‹ als eine dunkle