Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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30 Insofern »bedeutet der Keynesianismus nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die stärkste wirtschaftstheoretische und ideologische Bedrohung für die neoliberale Gegenreformation« und »ist deshalb weit mehr als eine wirtschaftstheoretische Gegenposition zum Neoliberalismus; er ist die demokratische Alternative zur folter- und schießwütigen Inquisition des gegenwärtigen Kapitalismus, zum praktizierten ›Pinochetismus‹ der Kapitalstrategie der Gegenwart.« (Zinn 2008c, 38)
31 »Indeed, the operational belief systems of what might be called the Greenspan-Rubin-Paulson milieu seems to have been post-Minskian. They understood Minsky’s theory of bubbles and blow-outs, but believed that they could use it strategically for blowing bubbles, bursting them, and managing the fall-out by blowing some more.« (Gowan 2009, 10)
Und selbst noch 2009, da laut Weltbank die Große Krise noch immer keinen »Boden«, wie die Börsianer sagen, gefunden hatte, beschrieb der Leiter der Abteilung Volkswirtschaft der DZ-Bank die Situation folgendermaßen: »Der zweifellos auf der Welt vorhandene Geldüberhang dürfte sein Ventil eher in einer neuen ›asset bubble‹ finden« (Jäckel), einer erneuten »Anlagen-Spekulationsblase« – das ist der Kern von Brenners »Vermögenspreis-Keynesianismus«.
Doch Vorsicht! Das moralische Schuldverlangen darf sich nicht vorschnell auf die US-Regierung festlegen. Denn die ganze Welt hat davon gezehrt. Ihr Geld vermehrt haben die einen, Lohnarbeit gefunden die anderen. Dass die USA in Folge jener Politiken zunehmend mehr verbrauchten, als sie herstellten, und als »Konsumenten letzter Instanz« wirkten, wurde zum Konjunkturmotor der Welt. Chinas Überproduktion bildete die komplementär-dynamische Gegenmenge zur US-Überkonsumtion. Dafür legte China seine Handelsüberschüsse vornehmlich in US-Staatsanleihen fest, zumal Direktinvestitionen von der US-Politik behindert wurden. Auf die dabei sich entfaltende Herr-Knecht-Dialektik kommen wir im »Chimerika«-Kapitel zurück.
6. Überkapazitäten oder Kapital-Überproduktion?
Sollte man angesichts des kreditbasierten Überkonsums der USA als anscheinend unentbehrlicher Konjunkturlokomotive womöglich statt vom finanzgetriebenen vom Konsumkredit-getriebenen Kapitalismus sprechen? Um solchen Schlagwörtern zu entgehen, wechseln wir die Analyseebene. Das Problem der Probleme, »die Hauptursache«, ist für Robert Brenner das Sinken der Profitrate. Wo er dieses Sinken auf »eine anhaltende Tendenz zur Überkapazität in der weltweiten verarbeitenden Industrie« zurückführt (2009, 5), unterscheidet Marx drei krisentheoretisch zu berücksichtigende Wirkungszusammenhänge. Den ersten fasst er als einen dem Verwertungsprozess innewohnenden Mechanismus der Produktivkraftentwicklung; den zweiten als Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate; den dritten als Gesetz der Kapital-Überakkumulation. Es ist kein bloßer Streit um Worte, wenn wir uns mit der zunächst bequemer scheinenden Kategorie der »Überkapazität«, die sich auf einzelne Branchen und damit auf bestimmte Güterklassen (Gebrauchswerte) bezieht, nicht zufrieden geben und stattdessen versuchen, mit Marx ins innere Getriebe des Kapitalverwertungsprozesses im systemischen Ganzen vorzudringen.
6.1 Extraprofit als Magnet der Produktivkraftentwicklung
Dank einer dem Standard vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung können Einzelkapitale einen Extraprofit erzielen. Die Konkurrenten müssen bei Strafe des Untergangs nachziehen, wodurch das neue Produktivitätsniveau zum Standard und der Extraprofit eingeebnet wird, sofern er nicht aus einer dem nunmehr neuen Standard wiederum vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung neu entspringt. Das Kapital kann sich folglich im Ganzen nicht anders vermehren, als indem es zugleich seine Produktionsweise permanent umwälzt. Der letzte Große Sprung vorwärts dieser Art war der zur computergestützten Produktionsweise, der sich mit seiner Myriade kleinerer Sprünge in der Dynamik des transnationalen Hightech-Kapitalismus noch immer als Destabilisierung und Dynamisierung aller Produktions-, Politik- und Lebensverhältnisse auf Erden bemerkbar macht.
Produktivitätsschübe, die nicht durch Verkürzung der Arbeitszeit oder durch wachsende Nachfrage ausgeglichen werden, setzen Arbeitskräfte frei. Für den Fall, dass die durch technische »Steigerung der Arbeitseffizienz« bewirkte Freisetzung im Unterschied zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit nicht durchs Wachstum neuer Branchen ausgeglichen wird, hat Emil Lederer zur Zeit der Großen Krise des Fordismus in den 1930er Jahren den keynesschen32 Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« weiter ausgearbeitet (1938/1981, 51ff).33 Für uns Heutige bietet sich in der Großen Krise des Hightech-Kapitalismus der Begriff der hochtechnologischen Arbeitslosigkeit an. Wir können davon ausgehen, dass längerfristig »die Leistung je Beschäftigtenstunde (Arbeitsproduktivität34) schneller steigen wird als das Bruttoinlandprodukt«, mit der Folge, dass das benötigte »Arbeitsvolumen« weiter zurückgeht (Hickel 2004). Die Versuchung liegt nahe, angesichts ungünstiger Kräfteverhältnisse regressiv zu reagieren wie einst die Maschinenstürmer und die Rückkehr zu arbeitsintensiven Produktionsweisen zu fordern. Doch es führt nur zu unglücklichem Bewusstsein und politischen Niederlagen, wo nicht gar zum Umschlag in finstere Reaktion, einer illusionär verklärten Vergangenheit nachzujammern und das Alte zu »betränen«, wie Marx zu sagen pflegte. Wir wollen gegen unsere heutige geschichtliche Enteignung angehen. Das verlangt zunächst Verständigung darüber, was der Fall ist, welcher objektiven Möglichkeiten wir unter den bestehenden Verhältnissen beraubt werden.
32 »We are being afflicted with a new desease of which some readers may not yet have heard the name, but of which they will hear a great deal in the years to come – namely technological unemployment. This means unemployment due to our discovery of means of economising the use of labour outrunning the pace at which we can find new uses for labour.« (Keynes 1930, CW 9, 325; vgl. Kurz 2002, 340) Beruhigend fügt Keynes hinzu, jener Zustand sei aber nur vorübergehendem Anpassungsmangel geschuldet (ebd.).
33 Während Keynes und Lederer den Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« gesamtwirtschaftlich anlegen, verengt Ralf Dahrendorf seinen Sinn betriebswirtschaftlich auf »Arbeitslosigkeit auf Grund des Preisvorteils der Technik gegenüber der Arbeit« (1983, 25ff; zit.n. Kurz 2002, 350).
34 Zu den Schwierigkeiten, Arbeitsproduktivität analytisch aus der bürgerlichen Statistik herauszurechnen, welche die Daten in den empiristisch-gewinnorientierten Kategorien der kapitalistischen Praxis abbildet, vgl. Scherrer 2001. Alles scheint hier darauf angelegt, die hochtechnologisch gesteigerte Arbeitsproduktivität hinter der Profitrate verschwinden zu lassen. Dass diese sinken kann im Zuge des Fortschritts der Arbeitsproduktivität, entspricht einerseits dem marxschen Tendenzgesetz des Falls der Profitrate und wird verschärft durch die Zunahme der Konkurrenz und die dramatische Verkürzung der Amortisationsfristen. »Cutthroat competition demands shortening the life cycle of products and launching new designs