Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Hightech-Kapitalismus in der großen Krise - Wolfgang Fritz Haug страница 20
Vom komplementär-gegensätzlichen Verhältnis der Produktion zur Konsumtion sowie zur Distribution als »Gliedern einer Totalität, Unterschieden innerhalb einer Einheit«, sagt Marx: »Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung […] als über die andren Momente.« (42/34) Die gleiche Dialektik waltet im Mensch-Natur-Verhältnis. Natur ist nicht nur zu uns gegensätzliche Natur in Gestalt der ausgebeuteten Erde. Natur greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung als über die anderen Momente. Wir Menschen sind in ihr und sie in uns. Wir vermögen diesen Sachverhalt zu begreifen, doch werden wir dadurch nicht zum »übergreifenden Moment« (vgl. Grundrisse, 42/29). Marx leitete aus diesem Sachverhalt den kategorischen Imperativ ab, nur den Besitz, nicht jedoch das Eigentum an unserer Naturwelt,45 dem allgemeinen Arbeitsgegenstand und Sitz des Gemeinwesens, der »Erde« zuzulassen, auch nicht das »aller gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen«. Für sie soll gelten: »Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie […] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (25/784)
45 »Die Unterscheidung von Besitz und Eigentum, dem gesunden Menschenverstand nicht ohne weiteres zugänglich, ist in historischer und perspektivischer Hinsicht zentral. Sie erlaubt, vorrechtliche Gemeineigentumsformen, rechtlich kodifizierte Formen unterschiedlicher Verfügung und Aneignung von Besitz und Eigentum, sowie revolutionär zu rekonstruierende Formen von Gemeineigentum und Besitz zu thematisieren.« (Krader 1995, 172)
Wir Heutigen, mit unserem katastrophisch geschärften Bewusstsein, müssen uns eingestehen, dass dieses Postulat in seiner positiven Fassung, wenn es sich nicht auf bestimmte Hinsichten beschränkt, streng genommen als utopisch zu bezeichnen ist. Denn auch wenn Ressourcen »von der Natur gratis geschenkt« zu sein scheinen (23/630), so ist doch in der Natur nichts umsonst. Jedenfalls können wir uns nicht vorstellen, vielleicht noch nicht, wie sich ein entsprechendes gesellschaftliches Naturverhältnis mit Nachhaltigkeitsüberschuss (›verbessert‹) im Ganzen herstellen lassen könnte. Wohl aber können wir zwischen nachhaltigeren und zerstörerisch zurückschlagenden Praxen unterscheiden, und an dieser ökologischen Unterscheidung hat sich unser Handeln auszurichten.
Vom traditionellen Sprachgebrauch abweichend, mag man die Geschehensebene der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in diesem Sinn, den Natur ›übergreift‹, als die der menschlichen Naturgeschichte bezeichnen. Ebenso unwiderruflich wie wiederholungslos schreitet auf dieser Ebene die Entwicklung fort. Die Natur an sich ändert sich nur, indem sie sich gleich bleibt, bzw. bleibt sich darin gleich, dass sie sich fortwährend ändert. Die Natur für uns, die wir die »Erde« nennen, ist mit uns auf einer Reise ohne Wiederkehr. Der ungeheure Produktionsapparat, den die gesellschaftliche Menschheit für ihren »Stoffwechsel mit der Natur« errichtet hat und betreibt, wirkt mit seinen Abfällen und Ausscheidungen in der uns umgebenden Natur, verfahrend wie sie selbst. Wenn die Erdgeschichte Jahrmillionen dazu gebraucht hat, die sauerstoffbestimmte Atmosphäre herzustellen und die Reste der Organismen, die den Kohlenstoff gebunden und den Sauerstoff ausgeschieden haben, im Untergrund zusammenzupressen, so führt die industrielle Verbrennung solcher Reste den darin mineralisierten Kohlenstoff in einem Bruchteil jener Zeit als »Treibhausgas« wieder in die Erdatmosphäre zurück. Insofern macht die von den Ausscheidungen der Industriegesellschaft bewirkte Klimaveränderung Epoche nicht nur in der menschlichen, sondern auch in der Erdgeschichte.
Dass nach dem Satz von Marx auch das Wie, mit welchen Arbeitsmitteln der Naturstoff verändert wird, die ökonomischen Epochen unterscheidet, ist im Hauptstrom der kapitalismuskritischen und speziell der marxistischen Literatur unterbelichtet, wenn nicht schlicht abwesend. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil damit angestammtes marxsches Terrain preisgegeben wird. Auf den zweiten Blick treten besonders drei Gründe hervor. Der erste Grund für jene Abwesenheit ist der den Stalinismus als Begleitideologie der gewaltgegründeten Industrialisierung prägende Technikdeterminismus, der alles Gesellschaftlich-Politische und Kulturelle diesem Primat unterwarf. Der notwendige Bruch mit dieser Ideologie und Praxis hatte bei vielen die entgegengesetzte Einseitigkeit zur Folge, die den objektiven Möglichkeitsraum bestimmende Determinante der technischen Arbeitsmittel zu vernachlässigen. Ein zweiter Grund dürfte in der Abwehr der Ideologie der »Wissensgesellschaft« liegen, sofern diese vom Kapitalverhältnis schweigt. Im Eifer des Gefechts gegen die Kapitalbestimmtheit vergisst man, das vom Kapital Bestimmte, die Produktivkräfte, zu berücksichtigen. Auch in dieser Hinsicht hätten wir es mit einer reaktiven Einseitigkeit zu tun. Als dritter Grund kommt der Einfluss der nicht genuin marxistischen Regulationsschule in Betracht. Mit Recht betont sie die Notwendigkeit, durch die komplexe institutionelle46 und politisch-kulturelle Einbettung des kapitalistischen Verwertungsprozesses ein konkretes Akkumulationsregime herauszubilden, das die gesellschaftlichen Konflikte zu absorbieren und Produktion und Konsumtion aufeinander abzustimmen vermag. Mit dem theoretischen Defizit fast aller Vertreter dieser Schule, darüber die formative Bedeutung der Produktivkräfte und ihrer Entwicklung zu vernachlässigen, haben wir uns im ersten Buch auseinandergesetzt (vgl. HTK I, 29-34).
46 Institutionen »regulate our economy by coordinating its decentralized decisions and integrating its separate activities into a unified structure« (Gutmann 1994, 56).
3. Produktivkräfte und Möglichkeitsräume von Herrschaft
Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen darf die Entsprechungen nicht vergessen lassen. Wie jede Herrschaft stützt auch die des Kapitals sich auf Herrschaftsinstrumente. Herrschaftstechnik ist ein geläufiger Begriff. Doch er ist besetzt vom Interesse an politischer Strategie und Taktik. Dass Herrschaft und Hegemonie ihre eigene Technobasis haben, tritt für gewöhnlich dahinter zurück. Der Einsatz der Produktionsmittel des materiellen Reichtums sowie derjenigen der Gewalt- und Hegemonieapparate bestimmt das Bild. Nicht weniger wichtig sind indes die Produktivkräfte organisatorischer Rationalität und Wirkungsmächtigkeit, die zu allen Zeiten staatlich reproduzierter Klassenherrschaft eine entscheidende Rolle in der Ökonomie der Macht gespielt haben. Sie muss als Ökonomie begriffen werden, denn auch Herrschaftsmächte ›wirtschaften mit knappen Mitteln‹, was sich zumal dann bemerkbar macht, wenn sie militärisch zusammenstoßen.
Die Dispositive der Digitalisierung haben nun deutlicher als frühere Technologien hervortreten lassen, dass auch die in den Produktionsverhältnissen verankerten Herrschaftstätigkeiten der Planung, Verwaltung, Kommunikation und Kontrolle darauf angewiesen sind, sich auf eigene Produktivkräfte zu stützen, die vom allgemeinen Stand der Produktivkraftentwicklung zehren und den Möglichkeitsraum kapitalistischen Handelns epochenspezifisch determinieren.47 Auf US-amerikanischer Seite realisierte sich die erste Phase des Irakkrieges auf Basis der informationstechnischen Dispositive; nach dem Einsatz der mannlosen »Marschflugkörper« dominierte das an militärischen Massen ausgedünnte »elektronische Schlachtfeld« des Hightech-Krieges (vgl. HTK I, 227). Auch wenn es wie seit alters am Ende die Sprengstoffe waren, die das Zerstörungswerk vor Ort bewirkten, so war die satellitengestützte informatische Koordination das epochal Neue. In der zweiten