Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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52 In Teil II wenden wir uns den Widersprüchen und Bewegungsformen der transnationalen Hegemonieverhältnisse und imperialen Strukturen zu, die für Weltmarktakteure notwendig sind.
Viertes Kapitel
Die Zeit der Spekulation
Bet’ und arbeit’!, ruft die Welt.
Bete kurz, denn Zeit ist Geld!
Georg Herwegh, Bundeslied
1. Attraktion und Repulsion von Arbeitszeit
Die Kapitalisierung des Geldes beschreibt Marx phänomenologisch als Verwandlung des von diesem dargestellten Werts in ein »automatisches Subjekt«. Und zwar erscheint der Wert hier als »das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet« (K I, 169). Stellt der Wert sich in dieser Bewegung »als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz« dar (ebd.), so verlangt dieser Prozess nach einem persönlichen Träger, der sich auf deren Standpunkt stellt und insofern aufhört, »sich als Selbstzweck zu behandeln, vielmehr sich jenem verselbständigten Zweck-Selbst zur Verfügung stellen, sein Ich zum Ich des sich verwertenden Werts machen« muss (KV II, 102). Sein Verhalten entspricht dem Eigentumsbegriff der bürgerlichen Moderne als »Verfügung über fremde Arbeitskraft« (3/32), sei es unmittelbar über ihre Verwirklichung als lebendige Arbeit, sei es mittelbar über deren Resultate. Ohne Arbeitskraftverkäufer würde das Kapital erlöschen zu nichts als »verstorbener Arbeit«, die sich – direkt oder indirekt – erst »belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt« (K I, 247). Damit kommt die Zeit ins Spiel. »Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert.« (Ebd.) Im ›wilden‹ Kapitalismus, in dem noch keine Arbeiterbewegung die Beschränkung der Arbeitszeit erkämpft hat, »wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit« (552). Doch auch der profitierende Betreiber dieses Prozesses entgeht nicht einer analogen Verwandlung seiner Lebenszeit, womöglich mit dem Unterschied, dass er sein Dasein als personifiziertes Kapital nicht auf geregelte Arbeitszeiten begrenzen kann und ihm das ›Abschalten‹ und ›Ausspannen‹ noch weniger gelingt als dem von Joseph Weizenbaum 1980 beschriebenen Typus des »zwanghaften Programmierers« (vgl. HTK I, 22).
Die Tendenz zur Ausdehnung der Arbeitszeit pro gekaufter Arbeitskraft als Quelle zusätzlichen absoluten Mehrwerts geht einher mit der komplementären Quelle zusätzlichen relativen Mehrwerts dank maximaler Verkürzung der Arbeitszeit pro konkretem Arbeitsprodukt, sei es durch Potenzierung der gegenständlichen Produktionsmittel, sei es durch »dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit, d.h. Kondensation der Arbeit« (23/432). Entsprechendes gilt für die Zeit zwischen Fertigstellung des Produkts und seinem Verkauf, die Zirkulationszeit und die damit verbundenen Transport- und Wartezeiten aller Art. Vor allem bewegt das Kapital sich zwischen Attraktion und Repulsion der lebendigen, Zeit verbrauchenden Arbeit, wenngleich auf verschiedenartigen Bezugsebenen. Der »Heißhunger nach Mehrarbeit« (249) als der Zeit der Verwertung geht einher mit dem ebenso unersättlichen Bestreben, den verwertungsnotwendigen Zeitbedarf zusammenzudrängen. Zuerst Mechanisierung und schließlich auf deren vorangeschrittenste Form gestützte Taylorisierung der Arbeitskraftverausgabung, dann Automation als Erübrigung tendenziell aller lebendiger Arbeitszeit zumindest im unmittelbaren Produktionsprozess machen auf der Ebene der kapitalistischen Produktionsweise Epoche. Da auch die Spekulation ihre eigentümlichen, dabei vom allgemeinen Entwicklungsstand zehrenden Produktivkräfte hat, markieren die entsprechenden Einschnitte ihre Geschichte nicht weniger als die der Produktion.
2. Zirkulation ohne Zirkulationszeit
»Zirkulation ohne Zirkulationszeit ist die Tendenz des Kapitals«, notiert Marx in den Grundrissen (Gr, 572; vgl. 560). Im Hightech-Kapitalismus verfolgt das industrielle Kapital dieses Ziel durch die computergestützte Rationalisierung der Logistik und Lagerhaltung im Zeichen der Lieferung zum produktionslogisch genauen Zeitpunkt (»just in time« ). Das Transportwesen erfand sich neu als »Logistik«. Während die Produktivkräfte der räumlichen Sachkapitalbewegung, sieht man von elektronischer Steuerung und Koordination ab, im Grundprinzip unverändert blieben, revolutionierte die Elektronisierung die Bewegung des spekulativen Finanzkapitals. Dieses näherte sich dem Ziel der zeitlosen Zirkulation bis an deren absolute physikalische Grenze. Damit schickte der Hightech-Kapitalismus sich an, das »automatische Subjekt« der Verwertung des Werts, von dem Marx spricht (K I, 169), aus seiner metaphorischen Existenz zu erlösen, indem er das lebendige Subjekt des Spekulationsarbeiters durch den Automaten ersetzte. Dieses Bestreben schlug sich nieder in der Ersetzung des Börsenmaklers durch »eine Maschine, die mit Maschinen kommuniziert« (Strobl 2010). So weit als möglich wurde die rastlose Bewegung des Wertverwertens in elektronische Netzwerke verlegt. Indem Computer vernetzt wurden und die entsprechenden elektronischen unstofflichen »Metamaschinen«, als die wir die Programme als prozessierende Schaltungskonfigurationen analysiert haben (HTK I, 112-15), miteinander wechselwirkten, schloss das Geräteensemble der Spekulation sich zu einem physikalischen System. Die Systembetreiber wurde »Hochfrequenz-Händler« getauft. Eines der Netzwerke nannte sich BATS. Zu seinen Eigentümern zählten u.a. die City Group, der Crédit Suisse, Morgan Stanley und die Deutsche Bank. Die Abkürzung BATS sollte an bats, »Fledermäuse«, denken lassen, da diese Tiere sich im Dunkeln mittels Echolot orientieren. Im elektronischen Handelssystem herrscht vom Standpunkt menschlichen Bewusstseins völliges Dunkel.
Als BATS 2006 gegründet wurde, wurden von der New Yorker Börse (NYSE) noch 70 Prozent der Geschäfte in gelisteten Kapitalgesellschaften abgewickelt; vier Jahre später waren es noch 20 Prozent. Im September 2010 gab BATS die Ausführungszeit für seine zweite Elektronische Börse »BATS Y-Exchange« (BYX) mit im Durchschnitt weniger als 250 Mikrosekunden und die Ergebnisanzeige mit 265 Mikrosekunden an, das sind 0,00025 bzw. 0,000265 Sekunden.53 Nun wurde die Lichtgeschwindigkeit profitrelevant. Menschlichem Vorstellungsvermögen erscheint sie als unendlich groß; die Zeit, in der das Licht irdische Strecken zurücklegt, dagegen unendlich klein. Doch über große Entfernungen zeigt sich beider Endlichkeit. Sie hat es erlaubt, kosmische Entfernungen in »Lichtjahren« zu messen. Für die Eliminierung bzw. Kompression der Zirkulationszeit des Finanzkapitals aufs absolute Minimum wurde angesichts der Konkurrenz die räumliche Entfernung der Handelscomputer vom Rechenzentrum der Netzbetreiber zur Schranke. Die Betreiber entdeckten in der Beseitigung des Hindernisses ein zusätzliches Geschäftsmodell. Sie boten den Händlern an, ihre Handelscomputer im Betreiberzentrum zu installieren. Die Kosten konnten sich nur die Großen leisten. »Kleinanleger […] sind in diesem Spiel die geborenen Verlierer.« (Strobl 2010)
53 <http://batstrading.com/byx/>.
3. Spekulation als raum-zeitliches Differenzgeschäft
Wenn die elektronische ›Bewaffnung‹ der untereinander konkurrierenden Spekulationsakteure Mikrosekunden zur Profitbedingung gemacht haben, so ist dies nur die hochtechnologisch basierte Form, in der ein Urgesetz des Spekulationsgeschehens sich geltend macht. Generell werden nach Marx