Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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58 Für Bryan u.a. bildet die konkurrenzgetriebene Kapitalmobilisierung den Kern der sog. »financialisation«. Wir setzen uns mit diesem mehr verschleiernden als erklärenden Modewort im folgenden Abschnitt auseinander.
Für die anfallenden spekulativen Gewinne bei Transaktionen des Finanzkapitals, denen gemeinsam ist, dass ihnen kein eigenes Mehrprodukt zugrunde liegt, gilt, was Marx im Kapital im Abschnitt über die »Widersprüche der allgemeinen Formel« des Kapitals schreibt: »Der zirkulierende Wert hat sich um kein Atom vergrößert, seine Verteilung zwischen A und B hat sich verändert. Auf der einen Seite erscheint als Mehrwert, was auf der andren Minderwert ist, auf der einen Seite als Plus, was auf der andren als Minus. Derselbe Wechsel hätte sich ereignet, wenn A, ohne die verhüllende Form des Austausches, dem B 10 Pfd.St. direkt gestohlen hätte.« (23/177) Auch der in manchen Theorien zum Wesen erklärte Raub in seinen verschiedenen Formen ist nicht verallgemeinerbar und kann deshalb nicht das Wesen des Prozesses ausmachen. Höchstens könnte man am Kräfteverhältnis zwischen Raub und Produktion etwas über die Grenzen des Kapitalismus (oder zumindest einer bestimmten Phase desselben) ablesen. Bei der gleichsam ›anonymen‹ Spekulation dagegen geht die Umverteilung, sofern sie nicht für einzelne Akteursgruppen einen Abzug am Ertrag bedeutet, auf Kosten des Ganzen. Wenn einer Geldvermehrung keine Produktvermehrung gegenüber steht, kommt es früher oder später zur Geldentwertung. Wenn aber die Produktvermehrung an der Grenze der zahlungsfähigen Nachfrage dieser Produkte stockt, springt der Kredit ein. Er kann der Geldvermehrung die Produktvermehrung folgen lassen und die ungleichen Laufgeschwindigkeiten im Getriebe überbrücken.
Doch wenn die mit stoflicher Produktion und Distribution befasste Wirtschaft, wie weit auch immer ihre Grenzen durch den Kredit hinausgeschoben werden können, zu eng wird, befasst sich gleichsam der Kredit mit sich selbst, wettet auf alles Mögliche und dann auf die Wetten selbst. »Die Tendenz zur exzessiven Spekulation […] hat eine strukturelle Ursache im globalen Überfluss an Anlage suchendem Finanzvermögen« (Deutschmann 2008). Nun stehen aber jedem als Leihkapital angelegten Geldvermögen Schulden gegenüber. In den Metropolen trifft eine wachsende Zahl von Vermögensbesitzern auf immer weniger kreditwürdige Schuldner. »Es entstünde dann eine auf den Kopf gestellte soziale Pyramide, in der es fast nur noch Rentiers gibt, aber kaum Schuldner, die die aus den Vermögen abgeleiteten Forderungen einlösen«, was »zur Vernichtung der Finanzvermögen führen müsste« (ebd.). Ein transitorischer Ausweg ist der Kapitalexport in Länder, wo viele Schuldner existieren (ebd.). So wächst ein Überbau fiktiven Kapitals im Doppelsinn von übermäßigem Bau heran, wie Helmut Schmidt u.a. ihn im Mai 2008 aufs 15-fache des Welt-Brutto-Inlandprodukts geschätzt und als vor dem Zusammenbruch stehend beschrieben haben. Angesichts solcher Disproportion springt ins Auge, dass diese Zahlungsversprechen zwar gehandelt, doch unmöglich gehalten werden konnten. Jeder etwas allgemeinere Anspruch auf Einlösung der Versprechen hätte sie in Luft aufgelöst. Das Schneeballsystem, mittels dessen Bernard Madoff den Reichsten 50 Milliarden Dollar abgaunerte, war demnach zwar ein krimineller Auswuchs, doch zugleich konnte darin »die perfekte Metapher der globalen Krise« (Gil Calvo 2008) gesehen werden. Seit der Tulpenspekulation, deren Blase im Februar 1637 in Amsterdam, der ersten Effektenbörse der Welt, geplatzt ist, hatte jeder spekulative Goldrausch so funktioniert. »Solange die Zahl der Teilnehmer wächst, werden Gewinne verteilt, doch nur bis zu jenem point of no return, ab dem die Dynamik sich umkehrt.« (Ebd.) Ein Unterschied zum kriminellen Betrug kann darin gesehen werden, dass der massenhafte Rückzug einen rasanten Wertverfall der Ansprüche auslöst und deren Geldausdruck auf den Boden zurückholt. Dank eines solchen Mechanismus hätten Madoffs Klienten ihn nicht belangen können.
Die Hebelung (leverage) von Kredit durch Kredit geht so lange, bis irgendwann die Kreditkette reißt, so dass sie sich insgesamt katastrophisch zusammenzieht. Dann schlägt dem über die Hebelwirkung zustande gekommenen Überbau von fiktivem Kapital die Stunde. Wenn dann »Kurzschluss« und »Kettenreaktion« zu Metaphern des Moments werden, nachdem das Kreditwesen mit immer ausgeklügelteren Formen handelbarer Zahlungsversprechen es erlaubt hat, fiktives Kapital zu schöpfen, so deshalb, weil im Moment der Krise, wie Marx sagt, »kein Mensch Zahlungsversprechen brauchen [kann], da jeder nur Barzahlung nehmen will« (K III, 556). Damit das Ende der Krise in Sicht kommt, muss Kapital vernichtet werden (Rogoff 2011). Doch der Spekulation gehört auch dieser Moment. Mit der Wette auf Kapitalentwertung sind auf den Höhepunkten der Finanzkrisen ungeheure Gewinne eingefahren worden. Wir kommen darauf zurück.
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