Soviel Leben gönn ich mir. Christoph Zehendner
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Du fragst, an welchen Punkt. An den Punkt, wo das Herz hart wird. Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben? Wie lange noch schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selbst? Wer aber mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann er gut sein?
Denke also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sage nicht, tu das immer, ich sage nicht, tu das oft, aber ich sage, tu das immer wieder einmal: Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.
„Gönne dich dir selbst.“ Starke und hochaktuelle Worte, finden Sie nicht auch? Ach ja, bevor ich’s vergesse, die Freunde Bernhard von Clairvaux und Eugen III. lebten vor etwa 900 Jahren, und sie waren beide Geistliche. Im Kloster hatten sie sich kennen und schätzen gelernt. Und als Eugen dann zum Papst ernannt wurde, unterstützte Bernhard ihn mit gutem Rat und mit Klartext aus den Klostermauern heraus.
„Gönne dich dir selbst“, schrieb er ihm. Ein Satz fürs Poesiealbum und fürs Stammbuch. Ein Rat mit Tiefgang. Eine Botschaft mit gewaltiger Wirkung – wenn wir sie für uns denn annehmen und auch auf uns übertragen.
Obwohl wir keine Päpste sind. Obwohl unsere Aufgaben überschaubar sind (verglichen mit denen, die der Kopf einer Weltkirche zu bewältigen hat) und wir keine erbitterten Feinde haben, die uns nach dem Amt und nach dem Leben trachten.
Gönne dich dir selbst. Du bist doch sonst für alle möglichen anderen Menschen da. Du zerreißt dich fast, weil du deine Aufgaben in der Familie, im Beruf, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft und wo sonst noch überall total ernst nimmst und niemanden enttäuschen möchtest. Doch Vorsicht – warnt Bernhard –, denke nicht immer nur an all die anderen, denk auch mal an dich.
Ein weiser Rat aus Zeiten, die den Begriff „Burnout“ noch nicht kannten. Ein Stück Überlebenstipp auch schon damals, als man nicht rund um die Uhr per Handy erreichbar und „verfügbar“ war.
Ein Rat, zu dem Bernhard auch Jesus selbst als Autorität hätte anführen können:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, sagt Jesus (Markus 12,31 b; und er knüpft damit an eine sehr alte Weisheit aus dem Alten Testament an). In der Kirchengeschichte hat dieser Satz eine Menge Taten der Nächstenliebe ausgelöst: Krankenhäuser wurden gebaut, Altersheime errichtet, Asyl für Obdachlose und Flüchtlinge geschaffen. „Liebe deinen Nächsten“, ja, das ist zweifelsfrei sehr gut und immer nötig.
Aber der zweite Teil der Aufforderung Jesu, „… wie dich selbst!“, geriet daneben oft in Vergessenheit. Dabei können beide Aussagen eigentlich nur zusammen richtig sein. Ich kann andere Menschen nur lieben, wenn ich mit mir selbst klarkomme. Die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu mir selbst hängen eng zusammen.
Sagt Jesus.
Und im Sinne Bernhards ausgedrückt bedeutet das wohl: Wenn ich immer nur alles Mögliche für alle möglichen anderen Menschen tue, dann kann ich gegen die Wand fahren. Ich kann, ich darf, ich sollte, ich muss mich mir auch selbst gönnen. Und dann habe ich auch Kraft, für andere da zu sein.
Das ist wichtig.
Lebenswichtig.
Aber gar nicht leicht.
Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, sind mutig.
Sie haben mein Büchlein bis hierher gelesen und wissen jetzt in etwa, was in diesem Buch auf Sie zukommt.
Herzlichen Glückwunsch dazu.
Sie haben sich die Zeit gegönnt, um etwas zu lesen, was wichtig für Sie werden könnte. Und was womöglich – wenn Sie das wollen – Ihr Leben tatsächlich verändern könnte. In dem Maß, in dem Sie das wollen und festlegen.
Sollen wir das gleich mal ganz konkret ausprobieren?
Gönnen Sie sich bitte einmal zehn Minuten Zeit und machen Sie sich hier oder auf einem Extrablatt Notizen. Die einfache Frage lautet: Angenommen, ich hätte morgen einen kompletten Tag frei – was würde ich mir gerne gönnen?
Bitte sehr, legen Sie los:
-- -- -- -- -- -- -- -- -
Na, sind die zehn Minuten langsam herumgegangen oder könnten Sie noch lange weiterschreiben?
Egal, wie viel oder wie wenig Sie sich notiert haben: Lassen Sie diese Wünsche bitte einfach mal stehen. Und blättern Sie von Zeit zu Zeit zurück. Vielleicht wagen Sie es ja mal, im Laufe der Lektüre des Buchs, den einen oder anderen Wunsch in die Tat umzusetzen?
Stellen Sie sich jetzt einmal vor, Sie hätten einen Urlaubstag. Sie säßen auf einer schönen Bank, hätten einen herrlichen Ausblick vor sich und würden sich etwa so fühlen, wie ich es in diesem Liedtext beschreibe:
Auf meiner Bank
Mein Freund, lass deine Arbeit steh’n,
komm, nimm dir Zeit für ein Glas Wein.
Die Welt wird sich schon weiterdreh’n,
auch ohne unser Strebsamsein.
Hier sitze ich auf meiner Bank
und lehne mich entspannt zurück.
Ich tue nichts. Denk: Gott sei Dank!
Ich lebe – welch ein Glück.
Bin nicht mehr jung und noch nicht alt,
hab schon so vieles hinter mir.
Bin rumgerannt und hingeknallt
und sitze trotzdem heute hier.
Hab gut zu tun und dennoch Zeit.
Das übe ich geduldig ein.
Lern Schritt für Schritt Besonnenheit,
will eifrig, doch gelassen sein.
Hier sitze ich …
Ich übe noch, mein Freund, schon gut,
ich geb’s ja zu, mir fehlt noch viel.
Doch schau, was sich bei mir schon tut:
Ganz langsam wachs ich hin zum Ziel.
Ich hoff, ich werd ein weiser Mann,
voll Gottvertrau’n und Kindermut,
der tapfer Fehler machen kann,
der lacht und liebt und in sich ruht.