Totensteige. Christine Lehmann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Totensteige - Christine Lehmann страница 15
»… I, J, K, L, M, N, O, P, Q …«
Was kann jetzt noch kommen?, fragte ich mich. Motiv mit R? Rache. Das hatten wir nicht gefragt. Doch schon war es vorbei. »… S, T, U, V.« Stillstand.
»V!«, rief Roswita.
Was fängt mit V an?
»Und weiter?«, forderte Meisner.
Diesmal blieb er bei E stehen.
Da hatte einer von uns eine klare Vorstellung, was gesagt werden musste. Oder hatten wir aus Verlegenheit den häufigsten Buchstaben gewählt, der alles offenließ? Der nächste Durchlauf landete bei R. »Ver…, Ver…«, murmelte Krautter.
»Verschwörung?«, fragte ich.
»Ja«, kippte der Tisch.
Das Ergebnis hatte jetzt ich vorgegeben. Interessant. Dabei war ich gar nicht der Typ, der die Truppen hinter sich scharte und auf ein gemeinsames Ziel einschwor. Ich kannte mich nur als Einzelgängerin. Ich war der Querschläger in jeder Runde. Meine Frage nach der Herrschsucht als Grundmotiv allen mörderischen Handelns hatte das Kollektiv ignoriert. Nicht verstanden.
»Verschwörung? Was für eine Verschwörung denn?«, fragte Meisner verärgert.
Hatte ich das Wort Kalteneck-Verschwörung an diesem Abend gebraucht? Nein. Den Titel hat die Angelegenheit erst später von der Presse bekommen. Damals dachte noch niemand an eine Verschwörung. Man hatte Juri Katzenjacob verhaftet, den Malergesellen mit emotionalen Defiziten und perversem Interesse für blutige Leichen. Oder wusste einer in der Runde mehr? Andererseits dachten wir immer gleich an Verschwörung, wenn etwas aus dem Ruder lief.
Der Tisch kippelte herum und blieb plötzlich stehen. Niemand hatte mitbuchstabiert. Doch, einer: Richard. »N«, sagte er.
Ich war erleichtert. Also war ich es nicht, die hier insgeheim lenkte.
Der nächste Buchstabe war wieder ein E, das alle Optionen offenließ. Der dritte lautete U.
»Neu«, sagte Krautter.
Der Tisch nahm seine Sprünge wieder auf. Ich hörte kaum hin.
»S!«, rief die Runde.
Dann kam ein C, schließlich das H.
Ein kalter Windstoß riss an Roswitas langem schwarzem Haar, die junge Staatsanwältin fröstelte plötzlich in ihrem roten Busenwunder, und ich hörte jemanden – und es war keiner von uns – wispern: Neuschwanstein.
Der Tisch schien nun außer Rand und Band. Er hüpfte uns fast unter den Händen fort. Meisner lachte. Aber das beeindruckte ihn nicht. Er war in Fahrt und nicht zu bremsen, und bis zum W war es weit. Warum wunderte es mich nicht? Und die andern kamen immer noch nicht drauf.
»Neuschwwwww…«
Ein Kippler.
»A!«
Da geschah es. Im Augenwinkel sah ich einen Lichtblitz. Es knallte. Enten flatterten auf und schnatterten. Ich spürte, wie Richard neben mir zusammenzuckte. Ein Glas auf der Brüstung zerplatzte, Krautter, der der Brüstung am nächsten stand, sprang beiseite, Scherben klirrten.
Ich hörte uns atmen. Es war da, das Grauen. Wie das Kind fühlte ich mich, das mit einer Freundin einst in Todesangst im Gebüsch bei der alten Fabrik gehockt hatte, von der es hieß, dort lebe ein Landstreicher, der Kinder stehle und ermorde.
»Habt ihr das auch gesehen?«, fragte Roswita leise.
»Puh! Was war das?«, sagte Meisner mit zittriger Stimme.
Ich sprang ans Geländer. Dort ging es einige Meter hinunter. Der See plätscherte an der Treppe mit den Booten. Ich lauschte. Irgendwo beschleunigte ein Auto.
»Der See war plötzlich ganz hell«, flüsterte die junge Staatsanwältin hinter mir. »Und auf der Insel zwischen den Bäumen, da war was, eine Gestalt, riesenhaft. Ich habe es ganz deutlich gesehen.«
Krautter hatte nur den Knall gehört, den er als Fehlzündung vom Parkplatz her zu interpretieren suchte, was allerdings nicht überzeugt klang, weil seine Stimme wackelte. Meisner behauptete, es hätte ausgesehen wie ein Kugelblitz. »Er stand rechts neben der Insel.«
Roswita widersprach mit gellender Stimme: »Nein, es war da drüben, wo die Boote liegen. Es ist senkrecht in den Himmel gestiegen. Rosenfelds Geist.«
»Hast du auch was gesehen, Richard?«, fragte Meisner.
Und zu meinem Erstaunen zitterte sogar Richards Stimme. »Es hat geknallt, dann war irgendwo ein Licht. Vielleicht ein Scheinwerfer auf der anderen Seeseite.«
Aber wieso war auf der Brüstung ein Glas zersprungen? Es war Richards Glas, das mit der Apfelsaftschorle.
»Jetzt brauch ich einen Schnaps!«, rief Meisner.
9
Sie nahm dem Catering-Buben mit den glasigen Augen eine Runde Schnäpse, Bier und Wein ab und schickte ihn heim. Dann saßen wir im toten Partysaal an einem Tisch und versuchten, auf einen Nenner zu bringen, was wir eben gesehen hatten. Ein Lehrstück für die junge Staatsanwältin. Es war nicht möglich, auch nur zwei in der Runde auf ein und dieselbe Wahrnehmung festzulegen. Was war zuerst gewesen? Der Knall oder das Licht? War Richards Apfelschorleglas auf der Brüstung zersprungen oder heruntergefallen? Am Schluss zerbröselte uns alles, und dankbar vertrauten wir uns Richards Plausibilitätssinn an. Vermutlich hatte ein Auto auf dem Spazierweg um den See zu wenden versucht, dabei war sein Scheinwerfer zwischen den Bäumen hindurch über den See geblitzt. Womöglich war er rückwärts gegen einen Stein oder eine Sitzbank gekracht. Was nachts knallt, klingt wie ein Kanonenschlag, wenn man sich im Halbschlaf oder in einer spiritistischen Sitzung befindet. Als es knallte, hatte Krautter sich umgedreht und dabei eines der Gläser gestreift, das auf der Brüstung stand.
Ich erzählte schließlich von Nina Kulagina, der Meisterin der Salzstreuer, von der Rache des Schachcomputers, dem träumenden PC und dem italienischen Dorf, in dem die elektrischen Geräte in Flammen aufgingen, obgleich sie keinen Strom hatten, und vom Rosenheim-Spuk.
Als wir endlich das Schloss über die Freitreppe verließen, fragte sich Meisner laut, wie man so einen nannte, der Salzstreuer bewegte. »Medium?« Dann wäre er Mittler zwischen Geisterwelt und gegenständlicher Welt. »Ein Übersinniger«, schlug Roswita Kallweit vor. »Psi-Agent«, meinte Richard, der seine auf Pumps taumelnde Kollegin fürsorglich am Ellbogen hielt. »Parapsychopath«, schlug ich vor. »Nein, ich hab’s, man nennt ihn Channeler«, trötete Meisner in die schwäbisch stille Nacht zwischen Schloss und Schlosshotel. Sie habe da mal was gelesen – ob zu privaten Zwecken eigener Bewusstseinserweiterung oder nicht, ließ sie offen. Channeln sei das Empfangen oder Senden von Nachrichten über einen geistigen Kanal, den es zu finden gelte, um der dichten, materiellen, niedrig schwingenden Erde in die feinstoffliche Sphäre geistiger Wahrheiten zu entkommen. »Da gibt es Ratgeber dafür! Huch!«
Richards Hand sicherte sie. »Ich fahre dich am besten nach Hause.«
Der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter war noch nüchtern und vernünftig genug,