Müllers Morde. Monika Geier
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Müllers Morde - Monika Geier страница 12
»Wein haben wir nur roten oder weißen«, zählte die Bedienung auf.
Richard seufzte. Er war länger nicht mehr hier gewesen. Fast ein Jahr, um genau zu sein. »Kaffee, bitte.«
»Oh«, sagte sie. »Klar. Was zu Essen dazu?«
»Eine Kanne heiße Milch.«
Das Mädchen warf ihm einen seltsamen Blick zu, zuckte dann die Achseln und sagte: »Alles klar.« Und ging mit wackelndem Hintern zurück ins Haus.
Richard bekam einen perfekten Kaffee mit leichter Crema obendrauf, nicht zu bitter, nicht zu dünn, aromatisch duftend, heiß, doch nicht kochend, perfekt eben, aber nun wusste er nicht mehr, was er mit der Milch machen sollte. In den Kaffee schütten war unmöglich, nicht trinken Verschwendung, doch pur schmeckte sie ihm nicht. Also sah er ziemlich ärgerlich zu, wie sie langsam kalt wurde, und studierte an dem wackelnden Tisch (wenigstens das Wackeln hatten sie gelassen) das perfekte Leben von Gunter Steenbergen. Es war eine von diesen atemberaubenden Karrieren, für die ein Normalo mindestens neun Leben braucht: Studium in Regelstudienzeit, Doktor in anderthalb Jahren, verschiedene Stellen nur in solventen Instituten, noch ein Doktortitel nebenbei für irgendein halbkommerzielles Forschungsprojekt, und dann: Umweltmanager einer der größten CO2-Emittendinnen Europas. Richard bestellte sich einen weiteren Kaffee.
Natürlich war es eine Frechheit, von ihm zu verlangen, dem Herrn ENERGIE-Doppeldoktor zu helfen, auch wenn der jetzt bemitleidenswert tot war. Zumal er obendrein vorgehabt hatte, Richards wissenschaftlichen Ruf einer albernen Veröffentlichung in Esoterik leben zu opfern. Doch seltsamerweise brachte ausgerechnet der Atlantis-Artikel Richard dazu, Steenbergen letztlich doch irgendwie menschlich zu finden. Er schob die fünf Druckseiten auf dem Tisch herum, und da lagen sie dann mit einem Mal neben der nutzlosen Milchkanne, weit weg vom Riesenpapierstapel mit Steenbergens Erfolgen und Eroberungen. Der Schrieb war kompletter Unfug, nicht wegen der Theorie (Atlantis im Atlantik), sondern weil es müßig war, Atlantis überhaupt zu suchen, das war kein wissenschaftliches Thema. Es war ein Loser-Thema. Leute, in deren Leben etwas fehlte, suchten nach Atlantis. Richard starrte auf die Milchkanne. Deren Inhalt war nun kalt. Ein Regentropfen setzte sich rund und glänzend auf den Deckel, ein weiterer folgte. Warum vermisste er bloß den ollen chat noir, der doch wirklich kaum trinkbar gewesen war?
Was hatte in Gunter Steenbergens Leben gefehlt?
Richard erhob sich und beschloss, es herauszufinden.
Steenbergen hatte eine Tochter gezeugt, als er achtzehn war, mit neunzehn hatte er geheiratet und mit zweiundzwanzig wurde er geschieden. Im März war er siebenundvierzig geworden. Richard wälzte diese Daten in seinem Kopf, während er sein Fahrrad in die Stadtbahn schob. Steenbergens Haus, das Richard besichtigen wollte, lag im Kölner Süden, in Bayenthal, das war ein Stück, und da es regnete, nahm er die Fahrt in der überfüllten Bahn auf sich. Eine junge Mutter mit nassem Kinderwagen musterte missbilligend sein sperriges Rad, er schob es, so gut es ging, aus der Reichweite ihres Sohnes. Kevin, lass dat Rad von dem Mann. Diese Worte waren allein an Richard gerichtet und sagten eigentlich: Was willst du, Öko-Opa, mit deinem blöden Fahrrad in unserer Bahn, deine Zeit ist vorbei, kannst du nicht endlich Auto fahren wie die anderen und hier Platz machen für Leute, die ihn ehrlich brauchen. Richard seinerseits fand Kevin zu alt für den Kinderwagen, wenn Mama auf den Wagen und den unhandlichen Regenschutz verzichtete und Kevin laufen ließe, wäre es weit weniger eng hier und Kevin vielleicht auch nicht so dick, Mama gib misch de Flasch. Nä Kevin, dat heißt nit, gib misch de Flasch. Dat heißt, gib misch de Flasch BITTE.
Tja, ein supererfolgreiches Familienleben hatte Steenbergen nicht gehabt, aber immerhin: ein Kind, eine Frau. Manche der Besten und Tapfersten erreichten nicht mal das. Schließlich waren selbst Kevin und seine Mama vielleicht Schicksal und Lebensinhalt für irgendwen. Richard stellte sich vor, mit dieser blondgefärbten, kräftig geschminkten jungen Frau liiert zu sein. Es fiel ihm nicht leicht. Dann versuchte er sich vorzustellen, eine knapp dreißigjährige Tochter zu haben, das kriegte er gar nicht hin. Steenbergens Tochter war fast dreißig, und Kevins Mama schien höchstens so alt. Was würde diese Frau tun, wenn ihr Vater starb? Ein Jahr in Schwarz gehen? Auf seinem Grab tanzen, weil er sich nie um sie gekümmert hatte? Sie würde erben, dachte Richard. Er hatte Steenbergens Kontoauszüge gesehen. Sie würde in das Haus ziehen und das Bankkonto plündern und sich einen neuen Kinderwagen kaufen. Einen knallroten mit hundertzehn PS.
Als er dann etwas später in der Bernhardis-Straße stand, einer angenehm ruhigen Gegend, wo die Kinder vermutlich Alexander und Julia und Benjamin hießen, da fragte er sich, wer Steenbergen eigentlich beerben würde. Vermutlich die Tochter. Natürlich, das stand hier im Dossier, Steenbergen hatte eine Art Konzept-Testament hinterlassen, einen kleinen Schrieb, in dem er alles der Tochter vermachte, Richard hatte das Dokument zuvor im Vladi übersehen, weil es so kurz war. Nun hantierte er mit einem Stapel rutschender Papiere in Steenbergens Straße und stützte sein Fahrrad mit der Hüfte und war wieder einmal das Chaos in Person, die wandelnde Slapsticknummer: Niemandem außer ihm würde es einfallen, vor einem fremden Garten neben einem ständig wegrollenden Fahrrad im Nieselregen eine Mappe mit wichtigen losen Blättern auszupacken und durchzusehen. Schließlich schaffte er es aber, alles sorgfältig zu parken, das Fahrrad am nächsten Laternenpfahl, die Papiere in seiner Tasche. Dann versuchte er, Steenbergens Haus auszumachen. Doch hier stand weit und breit nichts Großes und Protziges. Schließlich merkte Richard, dass er an der Hausnummer siebzehn, die er suchte, glatt vorbeigegangen war. Beschämt kehrte er um und stoppte vor einer kleinen weißen Häusergruppe mit langen Fensterbändern und einer mächtigen alten Schlingpflanze, die sich über alle Eingänge zog. 17c suchte er, das war das dritte in der Reihe. Es war auch das einzige Haus der Gruppe ohne Kranz an der Tür, und aus irgendeinem Grund stimmte Richard das froh. Der gute alte Steenbergen. In seinem Vorgarten duftete, blühte, summte und zierte sich nichts, da stand nur alter Buchs, streng und knorrig, und eine Holzbank auf hellen Travertin-Platten. Am liebsten hätte Richard sich erst mal hingesetzt und die Gegend betrachtet, doch diese Gegend hatte viele Fenster und wirkte etwas lauernd im regenfeuchten Sommernachmittag. Herumtrödeln sollte er auch nicht. Also kramte er den Schlüssel aus dem Dossier hervor und steckte ihn ins Schloss. Und dann sah er sich plötzlich unwillkürlich um. Ein Auto fuhr hinter ihm vorbei, es nieselte wieder, Passanten waren nicht unterwegs. So etwas hatte er noch nie gemacht. Mit einem sehr unguten Gefühl öffnete Richard die Tür zum Privatleben des Verstorbenen, spähte ins dumpfe Zwielicht des Vorraums und trat ein.
17.12 Uhr
Mist. Als Müller sollte ihm das nicht passieren. Nun war er schon als Jäger unterwegs und hatte trotzdem nicht aufgepasst. Weil er gleichzeitig auf die Straße und in seinen Computer auf dem Beifahrersitz schauen musste. Da entgingen einem die Details: Hatte da eben die Tür zu Steenbergens Haus offen gestanden oder nicht? War jemand hineingegangen? Oder herausgekommen? Wenn doch nur der Regen nicht alles auf der Scheibe verwischte! Müller blickte zurück, sah ein stilles Haus zwischen anderen stillen Häusern und glaubte an eine Täuschung. Seine Nerven waren überreizt. In dem Haus konnte doch gar niemand sein. Die Lichter waren aus, und es stand weit und breit kein Auto davor.
* * *
Sobald man den Vorraum passiert hatte, wirkte das Reihenhäuschen hell und groß, vermutlich deshalb, dachte Richard, weil Steenbergen den Stil der Zwanziger Jahre begriffen hatte. Beginnende Moderne, das bedeutete große Fenster, Einbaumöbel und unverstellte Räume. Voll widerwilliger Bewunderung sah er sich um. Schlichtheit war kein einfaches Lebenskonzept. Es war weit leichter, ein Bild aufzuhängen, als die Leere einer Wand zu ertragen. Richard selbst hatte das nie geschafft. Steenbergen jedoch schon: Sein Erdgeschoss war ein einziger weiter Raum, Küche, Wohnzimmer und Essplatz in einem, nirgends wurde der Blick unnötig aufgehalten, er konnte frei schweifen und wurde höchstens durch den Wintergarten hinaus in dunstiges Grün gezogen.