Biografie eines adoptierten Lebens. Sabine Purfürst
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Wenn es oben klapperte oder unten die Tür knarrte, schob ich die Papiere zusammen, steckte sie hastig in die Umschläge.
Zack! Zack! Alle Briefe mussten ordentlich gefaltet, in die Kassette gelegt und in den Schrank gestellt werden. Keiner durfte es merken. Auch die Schlüssel durfte ich nicht vergessen. Das war schwierig. Ich musste mich beeilen, alles verschließen und zum Schluss aus dem Zimmer schleichen. Es war gefährlich.
Die Schriftstücke lagen eine ganze Zeit da. Vielleicht so lange, bis ich sechzehn, siebzehn war. Und dann waren sie weg. Ich fand sie nie wieder. So oft ich auch suchte, sie blieben verschwunden.
Ich denke, Emmi hat sie weggeräumt und entsorgt.
Nachdem sie gestorben war, stellte ich alles auf den Kopf. Aber es war nichts da. Nicht ein Ding. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch irgendwo im Haus stecken. Eine alte Truhe besitze ich nicht, wo ich sagen kann, da habe ich noch nicht hineingeschaut.
Vermutlich hatte Emmi sie verbrannt, als ich damals im Streit ausgezogen war ...
3. KAPITEL: MEINE ELTERN SUCHTE ICH MIR SELBST AUS
An das, was ich jetzt erzählen werde, kann ich mich nicht bewusst erinnern. Ich war damals zwei Jahre alt oder noch nicht geboren.
Dieses Puzzleteil meiner Vergangenheit setze ich aus Bausteinen verschiedener Erzählungen der Verwandtschaft zusammen. Am lebhaftesten blieben mir die Schilderungen meiner Cousine Lenchen im Gedächtnis. Sie ist einige Jahre älter als ich und hat die Zeit intensiv erlebt. Damals wohnte sie ein paar Häuser von meinen Eltern entfernt. Ihre Familie zog erst Ende der 50er gen Westen.
Wenn ich allein in meinem Sessel sitze, blättere ich gern in Fotoalben der Kindheit herum. Ein Bild im verwaschenen Grauton zeigt Erich mit einem Koffer. Er sieht jung aus. Neben ihm steht ein alter Opel P 4. Damals arbeitete er als Chauffeur in Eisenach. Das war ein guter Job. Es war die Zeit vor dem II. Weltkrieg, bevor er eingezogen worden war.
Die Russen nahmen meinen Vater in Sibirien gefangen. Sie entließen ihn erst 1948/49. Über Krieg und Gefangenschaft sprach er kaum. Er schimpfte nie. Er schwieg. Nur auf Familienfeiern, nach einigen Schnäpsen, löste sich der Knoten in seiner Zunge und er redete.
Damals musste er Gras essen. Einen Wasserbauch schleppte er mit sich herum. Gesicht und Körper waren aufgedunsen. Die Leute gaben ihm kein halbes Jahr mehr. Trotzdem erreichte er ein stattliches Alter von 86 Jahren. Bei uns wurde er durchgefüttert. Auf den Tisch kam nur gesundes Zeug. Nur das, was im Garten oder auf dem Feld wuchs, landete auf dem Teller.
Die Frauen erlernten früher keinen Beruf. Als Hausfrauen kochten sie, backten sie, gingen aufs Feld und erzogen ihren Nachwuchs nebenbei. Meine Großmutter, Ilse Koch, brachte sogar eines ihrer neun Kinder auf dem Acker zur Welt. Danach hackte sie bei strömendem Regen mit dem Baby auf dem Rücken weiter das Unkraut und den aufgeweichten Boden. Es waren raue Zeiten, die wir uns heute kaum noch vorstellen können.
In jungen Jahren sah Emmi hübsch aus. Ihre braunen Augen mit den geschwungenen Brauen verliehen dem Gesicht einen energischen Ausdruck. Sie wusste, was sie wollte. Das sah man ihr an. Aber das Alter wischte den Glanz der Jugend beiseite. Der verträumte Blick schwenkte um in Traurigkeit und Verbitterung.
Ich fragte mich oft, warum?
Sicher gefiel ihr vieles nicht. Ihr Leben war eine einzige Baustelle. Doch sie sprach nicht darüber.
Vor meinem Vater war sie schon einmal verheiratet gewesen. Aus Liebe sagte man. Doch der erste Mann ging fremd. Das ertrug sie nicht. Sie ließ sich scheiden.
Großvater Otto Koch arbeitete mit Erich in der Mechanisierung. Beide spielten Amor. Aber eigentlich kuppelte der Opa.
Er sagte: „Oh! Ich hab `ne Tochter! Kannst mich ja mal besuchen kommen!“ und lud den Schwiegersohn in spe ein.
Zu Emmi meinte er: „Da ist ein Junge, den holen wir her!“
Erich kam und blieb.
Meine Eltern heirateten in dunklen Farben und schmuckloser Kleidung. Es gab Löwenzahnwein. Emmi sammelte die Blüten und zauberte Wein. Sie gab Zucker in den Topf und kochte das Ganze. Das Zeug war hochprozentig.
Ich sammle heute noch die jungen Blätter, die gelben Blüten und menge sie in jeden Salat. Ist mir wurscht, ob jemand meckert. Auch die Blüten der Gänseblümchen lege ich in die Schüsseln. Denn die kann man genauso essen.
Oh, das suche ich alles. In dem Fall bedaure ich, dass meine Emmi nicht mehr lebt. Ich hätte noch einiges von ihr lernen können. Doch als Kind interessierte mich das nicht.
Mm, schade eigentlich!
Heutzutage hat man viel vergessen, versucht es mühsam zurückzuholen. Damals, zu DDR-Zeiten, war man sehr erfinderisch. Aus dem Wenigen, was wir hatten, zauberten wir eine Menge. Ich denke, wir lebten gesünder als das heute der Fall ist. Die Konservierungsstoffe, Zusatzstoffe, der Industriezucker, das Industriemehl, das ganze künstliche Zeug, sind Plagen unserer Gesellschaft und machen die Menschen krank.
Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, wenn ich das Fotoalbum auf meinem Schoß durchblättere. Die Bilder erzählen Geschichten. Ich bin froh, dass Erich die Fotos so akribisch zusammengestellt und aufgeklebt hatte. Am Ende seines Lebens nahm er sich die Zeit dafür.
Und das eine oder andere Bild spricht Bände. Im Nachhinein sehe ich:
Er hat sie doch geliebt, seine Frau! Wenn er ihr das auch nicht verraten konnte!
Emmi verlor ihr einziges Kind. Ich weiß nicht, ob es vom Erich war oder von ihrem ersten Ehemann. Auf jeden Fall war die Fehlgeburt der Auslöser für die Suche nach einem fremden Leben. Sie muss der Meinung gewesen sein, dass es keine Chance für einen zweiten Versuch gäbe. Meine Eltern waren beide bereits über 40 Jahre.
Emmi beschloss, ein Kind zu adoptieren: „Da holen wir uns ein Kind aus dem Heim!“
Ich stelle mir vor, dass das damals 1953/54 einfacher war als heute. Ich kann das aber nicht beurteilen. Und was sie trotzdem für Anstalten machten, um ein Kind zu bekommen, das war beachtlich.
Mindestens viermal fuhren sie mit der Bahn oder mit Erichs Betriebsauto nach Erfurt. Das waren schon Strapazen zur damaligen Zeit gewesen. Es ging nicht alles so bequem und so einfach wie jetzt. Die Züge zum Beispiel waren nicht so komfortabel wie heute.
Meine Eltern reisten mehrmals in die Stadt, schauten sich verschiedene Kinder an. Das rieb sie auf. Das zerrte an ihren Nerven. Es war kein gemütlicher Weg, den sie gehen mussten.
Ich stelle es mir nicht leicht vor.
Nach welchen Kriterien sucht man sich ein Kind aus? Einen fremden Menschen, der ein Leben lang zur Familie gehören soll. Ich glaube, meiner Mutter fiel die Entscheidung sehr schwer.
Es wanderten viele Briefe zwischen Suhl und Erfurt hin und her, bevor man sich einigte. Emmi besaß ihren eigenen Kopf. Sie ließ sich nicht beeinflussen. Eine einmal beschlossene Sache konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Meine Cousine Lenchen sprach oft über den Tag der Entscheidung. Die gesamte Verwandtschaft wusste Bescheid. Natürlich hinter