Biografie eines adoptierten Lebens. Sabine Purfürst
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Ilse Koch, die Mutter meiner Mutter, war eine resolute, selbstbewusste Frau. Mit ihr spielte ich nicht gern. Sie konnte mit Kindern nicht umgehen. Kinder sollten was tun. Sie wurden geboren, um zu arbeiten. Das war früher selbstverständlich. Alle halfen mit. In der Familie meiner Großmutter lebten vier Mädchen und fünf Jungen. Da gab es keine Zeit für Spiele. Da hieß es Rechen, Hacken, Graben, Getreide einfahren, Obst und Gemüse pflücken, Erbsen pulen, Bohnen schnippeln und vieles mehr. Jeder musste mithelfen. Es war ganz normal für Ilse, dass ich das Gleiche zu erledigen hatte. Ich sollte kräftig mit zupacken. Da gab es keine Ausnahmen.
Das Wort „Spielen“ kam in ihrem Wortschatz nicht vor. Es war ein Fremdwort für Oma und so handelte sie auch. In einer bunten Kittelschürze stand sie da mit einem Stofftaschentuch in der Hand. Damit wischte sie ständig über ihre tränenden Augen. Doch das hielt sie nicht davon ab, mich zu bewachen. Selbst als sie nicht mehr laufen konnte, guckte sie aus dem Fenster und passte auf mich auf. Wenn dann der Moritz kam, schimpfte sie wie ein Rohrspatz von oben herab: „Du sollst nicht psch ..., psch ..., spielen! Du kommst jetzt hoch und putzt die Sch ..., Sch ..., Schuhe!“
Ilse stotterte. Vor vielen Jahren war ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen. War sie aufgeregt, ging das Stottern los. Wir Kinder hörten das und lachten. Wir veralberten die arme Oma. Sie sollte auf mich achtgeben. Doch ich machte schon damals, was ich wollte. Guck doch das Foto an. Wie ich da wegsehe. Das Schimpfen stört mich nicht.
Was die da sagt, will ich gar nicht wissen!
Bereits als kleines Kind war ich ein „Besen“. Ein „Lausejunge“!
Trotzdem liebten sie mich. Das muss ich sagen. Sie haben den Menschen aus mir gemacht, der ich heute bin. Obwohl ich das über viele Jahre nicht einsehen wollte.
Ich fühle mich der Natur sehr verbunden.
Schon im Kleinkindalter liebte ich Blumen. Rings um unser Haus breiteten sich Wiesen aus. In Gedanken sehe ich mich im Gras auf meinem Rockzipfel hocken, Butter- und Sumpfdotterblumen, Gänseblümchen und Schlüsselblumen zupfen. Ich sammelte alles, was mir gefiel, auch Unkraut. Dann band ich bunte Sträuße draus, hüpfte den grauen Feldweg entlang und schmiss sie vor der Haustür weg.
Einmal trug ich die kleinen Frauenschühchen mit nach Hause. Emmi bewunderte die lilanen Blüten. Sie stellte die Pflanzen in eine Vase. Wenn der Tag rum war, warf sie sie in den Müll. Das tat mir leid.
Ich dachte, wie kann man nur so sein? Die schönen Blumen wegschmeißen!
Da warf ich sie, bevor ich das Haus betrat, lieber selber weg.
Vor unserem Einfamilienhaus breiteten sich zwei große Kirschbäume aus. Ich kletterte für mein Leben gern in ihren Ästen herum, hockte mich in die Kronen und verhielt mich mucksmäuschenstill. Wenn die mich suchten, bewegte ich mich nicht! Sollten die mich suchen! Sollten sie sehen, was sie davon hatten, wenn sie so frech zu mir waren, dachte ich und rührte mich minutenlang nicht von der Stelle. Dickköpfig und stur verharrte ich in meiner Position, ohne dass mich jemand entdecken konnte.
Schon in diesem Alter bereitete ich meinen Leuten viel Ärger. Ich mochte nicht in ihrer Haut gesteckt haben. Heute frage ich mich, ob sie es manchmal bereut haben, dass sie nicht auf die Heimleiterin gehört hatten. Vielleicht hätte das andere Mädchen nicht so viele graue Haare verursacht wie ich?
Bevor ich die Schule besuchte, begleitete ich oft den Kuhhirten, den von Nordheim und seine Kühe auf den Buchenberg. Das durfte ich. Frühmorgens gegen neun Uhr stapfte er an unserem Heim vorbei. Er sammelte alle Kühe der Umgebung ein. Ziegen hatte er nicht dabei.
Oma Ilse geleitete mich bis zur Wegscheide. Sie passte auf, dass ich nicht vom Weg abkam. Erst, wenn der Hirte uns erreicht hatte, ließ sie mich gehen, holte mich aber spätestens an derselben Stelle wieder ab.
Von Nordheim nahm mich mit auf den Berg. Damals standen noch keine Häuser da. Man sah nur Wiesen, Bäume und Felder.
An einen Tag erinnere ich mich genau. Von Nordheim hatte Geburtstag. Irgendwo draußen zupfte ich gelbe Blumen. Ich glaube, es war Goldregen. Ich fand die so schön. Dass die giftig waren, davon hatte ich als Kind keine Ahnung. Mir gefielen sie. Das war entscheidend. Alles andere interessierte mich nicht.
Emmi reichte mir eine dicke Zigarre und voller Stolz trug ich die Geschenke zum Hirten. Den Blumenstrauß kriegten die Kühe und die Zigarre behielt er. Das weiß ich noch! Das war in Ordnung.
Als Kind war ich selten krank, lag nie im Krankenhaus. Selbst Eltern und Großeltern kannten kaum Krankheiten. Nur Oma Ilse fühlte sich im Alter nicht mehr wohl. Während Opa Otto noch auf dem Acker arbeitete, blieb sie daheim. Sie ging kaum noch aus dem Haus, denn das Treppensteigen fiel ihr schwer.
Früher half Ilse im Garten und bei der Heuernte auf den Wiesen. Doch das ließ alles nach. Mit 80 oder 82 stürzte sie, brach sich den Oberschenkel. Drei Wochen später starb sie.
Natürlich holte Emmi zuerst keinen Arzt. Auch ins Krankenhaus musste man nicht. Das war nicht notwendig.
„Das geht schon wieder fort ...“, meinten die Leute.
Aber ihr Bein war blitzeblau. Ich habe noch nie so ein Bein gesehen. Wie das dunkel und schlecht aussah!
Und Ilse jammerte ständig: „Ach, wenn ich doch schon mein Buch zugemacht hätte! Ach, wenn ich doch schon mei` Buch zugemacht hätt`!“
Sie wollte sterben. Schon vor 15 Jahren wollte sie ihr Buch schließen und hatte es nicht geschafft.
Nachdem sich ihr Zustand nicht besserte, holte Emmi den Zeth’e Fritz, den alten Landarzt von Suhl. Der schaute sich die Sache an und sagte: „Da mach mer die Bei ab und hängen se nei rauf in de Kirschbaum bei de Spatze!“
Den Spruch hab ich mir gemerkt. Das war typisch Zeth’e Fritz! Er überspielte vieles. Dass die Lage ernst war, sah er freilich. Dass aber nichts mehr zu retten war, konnte er nicht zugeben.
Überhaupt registrierte ich allmählich, dass viele Leute im Suhler Dialekt sprachen. Das fiel mir erst nach und nach auf, denn daheim achtete Emmi auf ein gepflegtes Hochdeutsch. Nur wenn Erich getrunken hatte, überhörte sie beflissentlich seine Entgleisungen. Aber manchmal rutschten auch ihr diese Wörter aus dem Mund, ohne dass sie das wahrnahm.
Doktor Fritz Zeth, das ist die Figur, die unten am Steinweg zwischen Niebling und Steigleder steht mit der Aktentasche in der einen und dem Stock in der anderen Hand. Zu ihm ging ganz Suhl. Er und Dr. Hofzimmer waren Ärzte, alte Ärzte, die alles mit einem gewissen Humor trugen. Ging da jemand hin und wollte nur einen Krankenschein, hatte er schlechte Karten. Wer aber wirklich krank war, dem half man natürlich. Gott sei Dank brauchte ich bisher kaum einen Arzt.
In den ersten Schuljahren kannte ich noch keinen Fernseher. Meine Eltern besaßen nur ein altes Radio. Das stand auf dem Schrank neben dem Sofa. Jeden Sonntagnachmittag durfte ich Pumuckl hören. Meister Eder und sein Pumuckl.
Ich hockte eine halbe Stunde still in der Ecke und lauschte. Ob Opa schimpfte oder Oma meckerte, ging mich nichts an. Ich hörte Pumuckl aus einem Röhrenradio lachen. Die Stimme aus dem großen hellbraunen Kasten verzauberte mich, nahm mich gefangen, hypnotisierte mich. Während dieser Zeit ließ ich mich von niemandem stören.
Letztens