Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien

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Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien

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Sanders.« Krawczyk zuckt mit den Schultern.

      Sanders erzählt sich die Geschichte immer so, wie sein Ego es gerade noch ertragen kann. Es wäre schön, jetzt eine Packung Lucky Strikes und einen schwachen Moment zu haben. Aber einen schwachen Moment hatte er schon lange nicht mehr. »Ich war ein Bulle«, sagt er. »Und Rocco war erst zwölf.«

      »Was hatte er denn für eine Knarre in seiner Jacke?«

      »Keine Knarre. Ein Hundebaby.«

      Krawczyk bekommt Bambiaugen, sie drohen überzulaufen. »Was für eine Scheiße!«, sagt er mit zerfranster Stimme. »Das ist mal wirklich eine knallharte Geschichte, Mann.«

      »Wenn es eine Geschichte wäre, dann würde sie irgendwie Sinn machen, eine Moral haben. Irgendetwas.«

      Krawczyk schaut an ihm vorbei, auf das gleichmütige Dahinströmen der Beusselstraße. »Ich erzähl dir das Ende von deiner Story. Ist mir wieder eingefallen. Die Lorenzos haben sich an dir gerächt. Sie nehmen das Blut deiner Frau, aber deine Frau hat’s überlebt. Du gibst nich auf, Mann. Frau weg, Kind weg, Job weg, Haus weg. Du ziehst in eine billige Einraumwohnung im Getto. Du brauchst Geld, also arbeitest du von zu Hause aus als Detektiv. Du hast eigentlich nur einen Auftraggeber. Und der ist jetzt auf Staatskosten eingefahren. Nun brauchste neue Kunden, also brauchste ein Büro. Deshalb stehste vor mir. Richtig?«

      »Fast richtig.« Es tut gut, das Lila der Wände anzuschauen. Sanders stellt sich vor, dass man die Blutspritzer darauf kaum sehen würde, falls ihm jetzt das Herz platzt. »Meine Wohnung ist weder billig noch im Getto«, sagt er. »Qualifiziert mich das trotzdem für einen Büromietvertrag?«

      »Klar. Ich schreib dir einen. Kannst schon ma Visitenkarten drucken lassen.« Krawczyk steht auf und klopft Sanders auf die Schulter. »Wenn du ma was brauchst, du Held, weißte ja, kommste einfach zu Onkel Pawel. Ich hab hier das Fitnessstudio und einen kleinen Sicherheitsdienst, Türsteher, Objektbewachung, so was. Falls du ma ein Back-up brauchst.« Krawczyk zwinkert Sanders zu.

      »Vielleicht kann ich am Tor ein Schild aufhängen.« Sanders steht auch auf. »Endlich Gewissheit – Ihr freundlicher Privatdetektiv sorgt für Klarheit.«

      »Was immer du willst.« Krawcyzk winkt ihm zu. »Mein Haus ist dein Haus.« Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.

      Sanders schmeißt die Pappbecher, die Zeitung und den Kalender in den Papierkorb. Sein Hemd hat er durchgeschwitzt, er muss jetzt dringend heiß duschen, gegen den Schüttelfrost. Die Beusselstraße hat ihn erwischt. Erwartbar. Schließlich saugt der Job des Detektivs Honig aus der allgemeinen Verkommenheit dieser Ecke: ein Gemisch aus Eifersucht, Neugier, Geiz, Geilheit. Niedere Instinkte lassen die Kasse klingeln. Und um zu verschleiern, dass man im Dreck wühlt, nennt sich eine diskrete Detektei heutzutage Consulting.

      Sanders schwebt eine Internetseite vor, auf der er »wir« schreibt, wenn er »ich« meint. Selbstverständlich wird er nur auf Empfehlung tätig, hat 95 Prozent Aufklärungsquote, ist durchweg diskret, high profile und schlichtweg exzellent. Und faire Preise. Nichts als die Wahrheit.

      Er sieht die schmalen Umrisse seines Körpers in der Glasscheibe zum Warteraum, von der Jalousie in schwarze Streifen geschnitten. Sanders’ Zukunft wird darin bestehen, dass ein paar Typen, die noch hilfloser sind als er selbst, ihn nach ihrem geklauten Custombike suchen oder das Smartphone ihrer Freundin orten lassen. Illegal? Keine Zeit für Luxusdiskussionen.

      Der Vibrationsalarm seines Smartphones trifft ihn in die Brust wie ein Stromschlag aus einer Elektroimpulswaffe. Die Nerven. Sanders fischt das Telefon aus der Innentasche seiner Jacke. Seine Hände zittern. Er kennt die Nummer nicht.

      »Hier auch Sanders«, sagt die glatte, eloquente Stimme eines einflussreichen Dahlemer Rechtsanwalts.

      »Vater.« Sanders muss sich kurz am Schreibtisch festhalten. Er hat die Stimme seines alten Herrn eine Weile nicht gehört und hätte es gern dabei belassen. »Was kann ich für dich tun?«

      Der Vater gibt ein Geräusch des Bedauerns von sich, aber vielleicht bildet Martin Sanders sich das auch nur ein. Zu viel Schicksal kann einen Mann romantisch und wehleidig machen.

      »Du weißt, dass ich sehr viele Verpflichtungen habe«, beginnt der Vater. »Ich möchte, dass du zu mir in die Kanzlei kommst. Es ist wirklich dringend.«

      »Dringend? Um das zu entscheiden, bräuchte ich mehr Informationen.«

      Sanders senior lacht. »Ich bin dein Vater, Junge. Kein Klient. Das hier ist eine wirklich delikate Angelegenheit. Nichts, was ich dir am Telefon erklären kann. Du hast deinen letzten Fall doch abgeschlossen?«

      Sanders hat seit vier Wochen keinen neuen Fall mehr, weil sein Hauptauftraggeber in der JVA Moabit sitzt. »Es gehört zu den reizenden Seiten meines Berufs, dass kein Fall jemals vollständig abgeschlossen ist«, sagt er trotzdem.

      »Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit Small Talk. Morgen um neun? Und bitte sei pünktlich, ich habe einen Anschlusstermin im Kanzleramt.«

      Ein guter Detektiv darf sich niemals von den Gefühlen seiner Klienten infizieren lassen. Sanders betrachtet das schwarze Handydisplay. Er wischt die eigenen Fingerabdrücke mit einem frischen Taschentuch weg. Eine halbe Stunde hat er das neue Büro, und schon ist der Papierkorb voller Taschentücher. Er denkt an die klassische Büroflasche, von der man so oft hört. Aber Alkohol hilft nicht gegen zu viel Schicksal – im Gegenteil.

      Immerhin ist der Villenvorort Berlin-Dahlem, in dem sein Vater residiert, im Frühling einen Ausflug wert. Reetdachhäuser und blühende Rosenbögen, die die Überwachungskameras verdecken. Außerdem kommt Sanders auf die Art mal wieder an die frische Luft. Und das ist ja, von Berlin-Moabit aus betrachtet, ein Wert an sich.

      Im Dunkeln berührt mich etwas. Es ist glatt und klebrig. Ich lieg im Bett und hab eine Flasche im Arm. Das passiert vielen Frauen, aber bei mir ist es eine Flasche Eierlikör. Was für ein Ausrutscher. Zugegeben, das kann sich nur jemand wie ich leisten, dessen Leben in den letzten Monaten ein einziger Exzess der Nichtigkeit gewesen ist. Zu viel gearbeitet – die Ausrede ist auch nicht neu.

      Warum bin ich eigentlich wach? Weil das Handy klingelt. Wo ist es? Keine Ahnung. Ich streck mich, meine Knie tun weh von den High Heels. Ich bin 31, ich bin zu alt für diesen Zirkus. Aber ich trag noch immer das Parfüm, das ich letztes Jahr im Duty Free aufm Flughafen Singapur gekauft habe. Guter Stoff. Er flüstert den ganzen Abend: Baby, ich gehör nur dir! Eine Menge Kerle glauben das. Weil sie es glauben wollen. Und sie zahlen cash. Denn ich bin eine Ex-Stewardess mit Escortjob-Problemen.

      Problem Nummer eins: Ich brauch die Kohle. Dringend. Also schweb ich elegant und stilsicher von Termin zu Termin, dabei immer – lyrisch gesprochen – auf der Flucht vor mir selbst. Ich versuch wie verrückt, eine bestimmte Telefonnummer zu vergessen. Da hilft es ungemein, wenn man jeden Abend ausgeht.

      Problem Nummer zwei: Escort heißt bei mir Escort – ich bin eine Gesellschaftsdame. Na ja, Dame ist vielleicht zu viel gesagt. Jedenfalls essen gehen, küssen vielleicht, aber dann ist auch fini. Oft genug sind meine Kunden Jedermänner mit Knallchargenpathos, die mich schon während der Vorsuppe nach einem Blowjob fragen und aus denen ich, wenn ich männerfeindlich veranlagt wäre, gern noch bei Tisch sechs Sorten Scheiße herausprügeln würde. Aber für ein paar Hunnis am Abend hat man über die Fürsorgepflicht hinaus auch gewisse Erziehungsaufgaben.

      Das Handy klingelt noch immer. Berlin ist unberechenbar – von wegen. Man muss nur das Unmögliche

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