Streifzüge durch meine Heimat. Horst Bosetzky

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Streifzüge durch meine Heimat - Horst Bosetzky

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ist die Oder. Das ist nicht viel im Vergleich zu den 2857 Kilometern der Donau, aber immerhin. Die Oder entspringt in Tschechien, wurde von den Polen Oddera genannt und hieß bei den deutschen Gelehrten des 16. Jahrhunderts nach ihrem Gott Viadrus fluvius. Diese Bezeichnung hat sich allerdings nicht durchgesetzt, nur die Europa-Universität Viadrina hat ihren Namen davon abgeleitet.

      Warum die Oder der Schicksalsfluss meiner Familie ist, soll später erzählt werden, an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass ich zwar nie auf der Oder gepaddelt bin, aber oft auf dem Oder-Spree-Kanal. Dabei habe ich immer davon geträumt, einmal den ganzen Kanal mit seinen insgesamt 65 Kilometern zu bewältigen und bei Eisenhüttenstadt jubelnd in die Oder einzubiegen.

      Schreibt man über die Oder, wäre eigentlich über den Nationalpark Unteres Odertal und seine wunderschönen Flussauenlandschaften zu berichten, aber den habe ich nie erkundet – wir haben es auf dem Oderdeich nur bis zur Nationalparkstadt Schwedt geschafft. Wichtig für mich ist dagegen das märkische Oderland zwischen Bad Freienwalde (Oder) und Neuzelle.

      Von Bad Freienwalde erreicht man mit dem Auto in kurzer Zeit Oderaue, in dessen Ortsteil Zollbrücke das »Theater am Rand« von Thomas Rühmann – bekannt durch die Rolle des Dr. Heilmann in der Fernsehserie In aller Freundschaft – und Tobias Morgenstern betrieben wird. Das Gebäude ist aus massivem Holz und sieht aus, als gehöre es in den Wilden Westen. Hinter der Bühne gibt es keine künstlichen Kulissen, allein die Natur mit ihren Feldern, Bäumen, Hecken, Koppeln, Wegen und Zäunen dient als Bühnenbild. Das ist einzigartig. Ich habe hier mit Freunden und Verwandten im Sommer 2015 das Stück Mitten in Amerika gesehen, eine bitterböse Geschichte um Wasser, Boden, Öl, Windräder und Schweinefarmen in Texas und Oklahoma. Zu Beginn der Vorstellung öffnete sich kein Vorhang – einen solchen gibt es hier gar nicht –, sondern die Schauspieler kamen durch ein Kornfeld von hinten auf die Bühne.

      Nach der Vorstellung ging ich zur Oder hinunter, tauchte meine Hände mit einer rituellen Geste ins Wasser und dachte daran, wie mein Vater hier im Sommer 1937 entlanggepaddelt ist. Von Breslau nach Berlin hat er es geschafft. Meine Mutter war damals, weil sie schwanger war, nicht dabei – ich also auch nicht.

      Wenn man Oderaue beziehungsweise Zollbrücke besucht, sollte man einen Abstecher nach Letschin machen. Dort befindet sich in der Fontanestraße 20 die Fontane-Apotheke, vormals allerdings nicht von Theodor, sondern von seinen Eltern betrieben. Nicht weit ist es auch zu den Seelower Höhen, wo die Rote Armee am 16. April 1945 die Schlacht um Berlin eröffnet hat. Auf einer unserer Wanderungen fanden wir dort noch immer leicht erodierte Schützengräben. Der herrliche Ausblick auf die Oderniederung lässt sich deshalb nicht so recht genießen.

      Mit der Wandergruppe sind wir auch fast jedes Frühjahr zu den Adonisröschen an den Oderbergen in Lebus gepilgert. Lebus war einmal eine Größe in der europäischen Geschichte. Unter dem polnischen Herrscher Mieszko I. ist es zu einem wichtigen Teil des Piastenstaates geworden, und Bolesław III. Schiefmund hat 1125 das Bistum Lebus gegründet. Mitte des 13. Jahrhunderts eroberten dann die Askanier Lebus, und es wurde brandenburgisch. Bald aber wurde Lebus bedeutungslos, denn der Bischofssitz wurde nach Göritz (Oder) verlegt.

      Als wir in Lebus am Oderufer in einem Restaurant sitzen und auf das Essen warten, wandern unsere Blicke nach Polen hinüber, wo auf einem Deich Fußgänger und Reiter zu sehen sind. Ich denke an O Cangaceiro – Die Gesetzlosen, den brasilianischen Abenteuerfilm von 1953, und versuche die Titelmelodie Mulher Rendeira zu summen, werde aber durch den Ruf »Jürgen, dein Auto!« aufgeschreckt. Drüben auf der polnischen Deichkrone ist ein Mercedes zu erkennen, und mir kommt sofort eine hübsche Episode aus dem Leben meines langjährigen Freundes Jürgen Dittberner in den Sinn. Der war mit einer befreundeten Familie nach Stettin / Szczecin gefahren und hatte seinen Mercedes dort absolut diebstahlsicher geparkt, indem er mit der vorderen Stoßstange mit kaum einer Fingerbreite Zwischenraum an einen Baum herangefahren war und sein Begleiter sein Auto nur einen Millimeter von der hinteren Stoßstange entfernt abgestellt hatte. Sie waren sich sicher: Den Wagen könnte kein Weltmeister wegfahren. Als sie nach zwei Stunden Stadtrundgang zurückkamen, war der Dittberner sche Wagen dennoch verschwunden. Großes Bohei bei der polnischen Polizei. Man hielt Jürgen für einen Spinner und Versicherungsbetrüger. Schließlich stellte sich heraus, dass der Mercedes mithilfe eines Krans eines Abschleppdiensts aus der Lücke gehoben worden war. Jürgen sollte ihn nie wiedersehen.

      Während wir nach Polen schauen, lenke ich das Gespräch auf Fontane. »Hier irgendwo hinter den Hügeln auf polnischer Seite muss das Hohen-Vietz aus Fontanes Roman Vor dem Sturm gelegen haben. Winter 1812/13. Bernd und Lewin von Vitzewitz, Landsturmtruppe gegen die französischen Besatzer.«

      Dass die Kleiststadt Frankfurt (Oder) zum Muss einer jeden Wanderung durch die Mark Brandenburg gehört, ist selbstverständlich. Auf die Universität Viadrina ist schon hingewiesen worden, und alle Baudenkmäler aufzuzählen ist nicht Sache dieses Buchs. Für mich ist nur wichtig, dass Frankfurt eine Straßenbahn hat, man auf seiner Oderbrücke stehen und in vorbeifahrende Kähne spucken kann und schnell drüben in Słubice ist. Dort kann man nicht nur kiełbasa śląska, die schlesische Wurst, essen, sondern von dort erreicht man auch schnell Kunowice, wo am 12. August 1759 die Schlacht bei Kunersdorf stattgefunden hat.

      Über Eisenhüttenstadt, von Einheimischen kurz Hütte genannt, ist schon viel berichtet worden, allerdings noch nicht, dass ich dort Verwandte habe und dort schon zweimal zu Lesungen zu Besuch war. Die Gründung der Stadt ist 1950 auf dem III. Parteitag der SED beschlossen worden. Neben dem Eisenhüttenkombinat Ost sollte bei Fürstenberg (Oder) eine sozialistische Wohnstadt mit Namen Stalinstadt entstehen. Nach der Entstalinisierung 1961 wurden dann Fürstenberg und Stalinstadt zu Eisenhüttenstadt zusammengeschlossen. Schön ist hier das Friedrich-Wolf-Theater anzusehen, und die Partie an der Oder ist lieblich.

      Weiter geht es nach Neuzelle. Hoch oben auf einem Bergsporn, der bis in die Oderniederung reicht, thront das Klosterensemble, das zwischen 1300 und 1330 von den Zisterziensern erbaut wurde. Betritt man die dreischiffige Klosterkirche, hat man das Gefühl, mitten in Bayern zu sein.

      Schade, dass es wieder zurückgeht nach Berlin. Aber wir sind müde. Beenden wir dieses Kapitel mit Joachim Ringelnatz:

       Wie jeder, der Großes erlebte,

       Als er an Größerem bebte,

       Schließlich tief ausruhen will.

       Groß Pankow und die Prignitz

      Die Gemeinde Groß Pankow übertreibt etwas mit ihrem Namen. Genau genommen, müsste sie mit ihren 3982 Einwohnern Klein Pankow heißen, denn der Berliner Bezirk Pankow weist 394 816 Einwohner auf und ist deshalb das eigentliche Groß Pankow.

      »Aber wir liegen auch an der Panke«, lautet der Einwand aus der Prignitz.

      »Nun, unsere Panke ist immerhin ein Flüsschen von 29 Kilometern Länge und eure von der Quelle hinter Kuhsdorf bis zur Mündung in die Stepenitz nur ein Bach, der noch nie richtig vermessen wurde«, entgegnet daraufhin der drittgrößte Hauptstadtbezirk.

      Als ich kurz vor Weihnachten 1945 Groß Pankow zum ersten Mal betrat, war es noch ein kleines Dorf, heute zählen zu Groß Pankow 18 Ortsteile und 39 Dörfer. Da wir Kinder mit unseren Müttern im Krieg evakuiert wurden, hatte ich zuerst eine Zeit lang in Steinau an der Oder, unweit von Liegnitz, verweilen dürfen, dann in Zieko in der Nähe von Coswig in Sachsen-Anhalt und schließlich in Groß Pankow, gelegen zwischen Perleberg und Pritzwalk. Warum waren wir ausgerechnet hierher gekommen? Weil ein Teil des Reichpostzentralamtes, in dem mein Vater als Techniker beschäftigt war, nach Groß Pankow, und zwar in den Tanzsaal des Gasthauses »Zettgries«, ausgelagert worden war. Meine Mutter und ich bekamen zwei

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