Streifzüge durch meine Heimat. Horst Bosetzky
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Zwar konnten Volker und ich nicht mit der musealen Kleinbahn fahren, aber wir konnten eine museale »Großbahn« besichtigen, also eine, die nicht auf Schmalspurgleisen verkehrt, sondern auf der Normalspur. Als Junge war ich begeistert davon gewesen, dass zwischen Kuhbier und Pritzwalk die Gleise der Nebenbahn nach Putlitz direkt an der Chaussee entlangliefen. Wenn dort ein Zug entlangdampfte, war das für mich wie eine Weihnachtsbescherung. Bis zum 29. Juli 2016 fuhr dort die RB70 mit den Zwischenhalten Laaske, Jakobsdorf (Prignitz), Groß Langerwisch, Kuhbier und Pritzwalk West. Betrieben wurde sie von der Hanseatischen Eisenbahn. Der dieselgetriebene zweiachsige Schienenbus, im Volksmund Ferkeltaxi genannt, stammte von der Waggonfabrik Uerdingen und war, wie uns der Lokführer auf unserer Reise 2016 verriet, im Jahre 1956 gebaut worden. Das merkte man ihm auch an, und da die Schienen im verkrauteten Gleisbett nicht unbedingt ICE-Standards entsprachen, fürchtete ich um meine Bandscheiben, obwohl wir meist nur dreißig Stundenkilometer fuhren. Wir saßen ganz vorne und genossen den Blick auf die Strecke. Es wurde eine herrliche Fahrt durch Wälder und Felder und über die Prignitzer Prärie. Ich zahlte für Hin- und Rückfahrt 5,40 Euro. Den Fahrschein sah ich mir jedoch erst zu Hause an. Sofort rief ich aus: »Horst, du heißt nicht nur so, du bist auch einer!« Die Strecke gehörte zum Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, und ich hätte mir den Fahrschein sparen können, da ich eine 65-plus-Monatskarte hatte.
Über Pritzwalk ist aus meiner Sicht nicht viel zu berichten. Am 15. April 1945 ist hier ein Munitionszug nach einem Fliegerangriff explodiert, und wir haben den Knall bis nach Groß Pankow gehört. Eine andere Erinnerung an Pritzwalk verdränge ich gern: Hätte meine Mutter im Sommer 1945 im hiesigen Krankenhaus keine Abtreibung vornehmen lassen, könnte ich mich heute mit einem deutsch-russischen Halbbruder über vieles Putin’sche unterhalten.
Von Pritzwalk nach Groß Pankow sind es nur rund 13 Kilometer, und diese Fahrt genoss der kleine Horst früher ganz besonders, weil die Strecke durch das Dorf mit dem schönen Namen Kuhbier führte. Ich sah im Geiste die Kühe Bier trinken und amüsierte mich köstlich darüber. Deshalb wollte ich auch 2016 unbedingt dort entlangfahren, denn unzählige Male hatte ich auf der Chaussee von Kuhbier nach Groß Pankow mit Edith einen Leiterwagen gezogen und geschoben, um den Arbeitern das Mittagsessen aufs Feld zu bringen, wo die im Ernteeinsatz gewesen waren. Aber Volkers Navigationssystem führte uns auf eine neue Schnellstraße, auf der wir erst nach vielen Kilometern wieder umkehren konnten.
Auf dem Areal zwischen Groß Pankow und Kuhsdorf waren wir Bauern- und Evakuierungskinder auch tätig gewesen. Dort haben wir in den Wäldern Martin Blumenthals Pilze und Beeren gesammelt und die Kühe am Abend von der Weide in den Stall getrieben. Ich fand das alles herrlich! Gehasst habe ich nur das nach Luggendorf hin liegende Gurkenfeld, wo wir Kinder allerlei Arbeiten zu verrichten hatten, denn fast jeden Abend gab es Schmorgurken zu essen – und die konnte ich gar nicht ausstehen. Besser schmeckte da der Knieperkohl.
Auf den Mohnfeldern haben wir die reifen Kapseln geöffnet und uns die graublauweißen Körner in den Mund rieseln lassen. Wenn mich heute jemand »mohndoof« nennen sollte, kann ich ihn nicht verklagen. Im Sommer 1946 waren Schuhe rare Kostbarkeiten, und wir sind sehr oft barfuß gelaufen, auch bei schlechtem Wetter. Hatten wir furchtbar kalte Füße, wärmten wir sie in frischen Kuhfladen auf.
Zur Leichtathletik bin ich auch durch meine Zeit in Groß Pankow gekommen. Unser Bauer besaß damals große Plantagen mit prächtigen Kirschbäumen, und da die grünen Netze noch nicht erfunden waren, mit denen man heute die reifen Früchte vor Staren und anderen Vögeln schützt, mussten wir Kinder um das Anbaugebiet herumlaufen und dabei Topfdeckel aufeinanderschlagen, um die Tiere zu vertreiben.
Groß Pankow verdanke ich zudem meine Allergien, die sich zu einer chronischen Lungenerkrankung entwickelt haben, denn wir mussten auch beim Dreschen helfen, und die damaligen Dreschmaschinen bliesen unfassbar viel Feinstaub in die Luft. Mein Leiden – Husten und Fieber – wurde deshalb auch als Drescherkrankheit bezeichnet.
An kulturellen Sehenswürdigkeiten sind die Schlösser beziehungsweise Herrenhäuser Wolfshagen und Laaske und das Königsgrab von Seddin zu nennen, außerdem das nahe Zisterzienserkloster Marienfließ und das Klosterstift Heiligengrabe sowie die Städtchen Perleberg und Putlitz. Aber der Reihe nach …
Wir machen in Teilen die »Gänsetour« – so heißt das in der Prignitzer Touristik – und fahren von Groß Pankow nach Wolfshagen, wobei wir Horst – die Ortschaft – rechts liegen lassen.
Beim Eintreten ins Schlossmuseum Wolfshagen müssen wir dem Werbeprospekt zustimmen: So hat ein märkisches Gutshaus von innen ausgesehen. Außerdem wird uns bestätigt, dass Wolfshagen an der Stepenitz liegt. Neu in unseren Bildungskanon fügen wir ein, dass die Familie Gans zu Putlitz aus der Altmark eingewandert ist und zum ersten Mal 1178 urkundlich erwähnt wurde. Ab 1147 hat sie beim Wendenkreuzzug die Prignitz kolonisiert und in Putlitz eine alte slawische Burg übernommen. Nach 1945 hat das Gutshaus als Flüchtlingsunterkunft gedient, zur DDR-Zeit wurde es als Schule genutzt, und 1995 wurde es zum Museum.
Vom Schloss Wolfshagen ist es nicht weit bis zum Königsgrab von Seddin, einem etwas mehr als sechzig Meter langen und zehn Meter hohen Grabhügel aus der Zeit um 800 v. Chr. Hier soll der legendäre König Hinz bestattet worden sein.
Reist man mit dem Auto über die B5 an, die vor dem Autobahnbau für alle West-Berliner der einzige Weg war, um durch die DDR nach Hamburg zu gelangen, kann man im Raum Groß Pankow schnell alle Orte aufsuchen, die wichtig sind. Zu nennen ist hier das bereits mehrfach erwähnte Laaske, heute Teil der Stadt Putlitz, wo Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz, der »rote Baron« der DDR, aufgewachsen ist. Die Liste all derer zu Putlitz, die hier gelebt und gewirkt haben, ist lang, mir hat sich nur der Name Gödula Margarethe zu Putlitz eingeprägt, weil der so herrlich verschroben ist. Im stattlichen Schloss waren nach 1945 zunächst Geschlechtskranke und dann Waisenkinder einquartiert, bevor es zu einem Feierabendheim wurde. 2004 hat es ein Hamburger Unternehmer gekauft, der dort nun ab und an seine freien Tage verbringt.
In der Umgebung von Groß Pankow finden wir aber auch viel Christliches, so das Zisterzienserkloster Marienfließ und das Klosterstift Heiligengrabe. Das Kloster Marienfließ, heute ein Altenpflegeheim der Diakonie, ist von den Edlen Herren Gans zu Putlitz gestiftet und ab 1230 von Zisterzienserinnen geleitet worden. Sein größter Schatz ist eine Reliquie, die einen Tropfen des Bluts enthalten soll, das Jesus am Kreuz vergossen hat. Otto IV. hatte sie aus Palästina mitgebracht. Nach dem Tod des Kaisers fiel sie Johann Gans in die Hände, der mit dem Bau an der Stepenitz einen sicheren Aufbewahrungsort für das Kleinod schaffen wollte. Aber das Kloster hatte auch noch einen anderen Zweck: Adlige Damen, die nicht zu verehelichen waren, sollten hier ein sicheres Zuhause finden.
Das Klosterstift Heiligengrabe wurde 1287 von jenem Markgrafen Otto IV. gegründet, der einem meiner Bücher seinen Namen gegeben hat: Otto mit dem Pfeil im Kopf. Die Klosteranlage, kaum mehr als zehn Kilometer von Pritzwalk entfernt, ist mit ihren dunkelroten Backsteinbauten, etwa der Heiliggrabkapelle, für jeden ein Labsal, der die modernen Berliner Bauwerke um den Hauptbahnhof und den Potsdamer Platz scheußlich findet. Als ich zur DDR-Zeit einmal mit Freunden in Heiligengrabe war, sind wir mit der Äbtissin ins Gespräch gekommen, und es stellte sich heraus, dass sie mir mit einiger Wahrscheinlichkeit im nahen Groß Pankow Religionsunterricht erteilt hatte. Damals war sie noch Pfarrerin gewesen. Irgendjemand hat mir später erzählt, sie sei Ingeborg-Maria Freiin von Werthern gewesen.
Noch ein letztes Mal möchte ich auf das kleine Dorf Groß Pankow der Jahre 1944 bis 1946 zurückkommen. Ach, was war das für das Hinterhofkind