Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain. Herbert Seibold
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Joe bat sie noch: „Bitte erkundige dich bei der Sekretärin, ob man die Ehefrau erreicht hat.“
Gertrude schaute auf die Uhr und stürzte mit Doktor Mai los zur Intensivstation. „Bis gleich.“
Joe Moser war als Erster auf dem Wege zum Besprechungsraum, der von den Ärzten sonst als Bibliothek benutzt wurde. Er wollte dort mit seiner Kollegin und dem Hauptwachmeister Platzer die ersten Schritte besprechen. Bevor Gertrude eintraf, hatte er schon in nur zehn Minuten eine Liste von möglichen rein theoretisch Verdächtigen aufgesetzt, als Grundlage einer ersten Arbeitshypothese. Es gab sogar eine Wandtafel in diesem Raum und einen Flipchart. Gertrude war begeistert, dass Joe aus dem Handgelenk heraus eine Liste der Verdächtigen erstellt hatte. Sie nickte anerkennend, als Joe das Papier in die Hand nahm.
„Möchtest du die Notizen auf dem Flipchart erstellen? Wir können zuerst mal ohne Selektion mögliche Verdächtige auf der linken Seite der Tafel festhalten und dann, wenn wir mehr Informationen haben, eine Wahrscheinlichkeitsordnung der am meisten Verdächtigen erstellen.“
Gertrude ergänzte, dass sie auf der rechten Seite der Tafel gern Informationen, die sich für die Aufklärung positiv auswirken könnten, auflisten würde.
„Okay.“ Joe nahm die Liste zur Hand und fragte: „Was meint ihr, wer als Täter oder Täterin infrage kommen könnte? Gertrude, wer hat die günstigste Gelegenheit zur Tat gehabt und das plausibelste Motiv?“
„Ich weiß es noch nicht.“
Joe schaute kurz auf die Tafel, zog das Jackett aus und fing an: „1. Ein gemobbter, hasserfüllter Arzt oder Pfleger mit Venenpunktionserfahrung, der entlassen wurde. 2. Ein Mann aus dem familiären Umfeld von Muniels Frau – ein Liebhaber?“
Gertrude schlug vor: „3. Muniels Frau selbst? 4. Lobbyisten, die aus Konzernen mögliche Interessen, zum Beispiel einen Einstieg in Organtransplantationen, organisieren wollten, aber damit bei Muniel abgeblitzt sind.“
Jetzt wollte auch der Hauptwachmeister was sagen und platzte heraus: „5. Ein Mann aus der Studienzeit, dem er die Frau ausgespannt hatte, der jetzt arbeitslos ist und eine arme Frau geheiratet hat.“
Gertrude schaute ihn nur verdutzt an und ergänzte: „6. Ein Unbekannter, dessen Angehöriger von Muniel bei einem Verkehrsunfall getötet wurde? Gibt es einen Gerichtsvorgang? Einen Verkehrsdelikt, bei dem er beteiligt war?“
Joe nickte und schlug noch vor: „7. Gibt es Angehörige, die stinksauer waren, weil Patienten mit Risikoprofil aus ökonomischen Erwägungen zu früh in weniger qualifizierte Krankenhäuser verlegt wurden? Herr Platzer, bitte rufen Sie doch gleich die Sekretärin von Muniel an wegen einer Liste abgelehnter und früh verlegter Patienten vom letzten Jahr und vor Ablauf der Probezeit entlassener Assistenten. Dann können Sie auch gleich erfahren, ob die Ehefrau sich schon gemeldet hat.“
Herr Platzer strahlte, schlug die Hacken zusammen, machte eine Kehrtwendung und verschwand im Nebenraum. Er konnte es einfach nicht lassen. Dabei hatte er nur sechs Monate in der Bundeswehr verbracht.
Joe fasste jetzt zusammen: „Unsere Ermittlungen laufen in viele Richtungen. Vorerst bleiben – wie immer zu Beginn – viele Fragen und leider gibt es noch keine Antworten. Welche Punkte sind am wichtigsten auf der Favoritenliste?“ Er zeigte auf die Nummer eins und sprach: „Für mich ist diese Gruppe die verdächtigste. Die Fingerabdrücke und DNA-Spuren sind leider noch nicht ausgewertet. Platzer wird uns in zehn Minuten vielleicht eine Aufstellung dieser Personen bringen.“
Joe Moser hatte bei seinem kurzen Gespräch mit den Chefärzten erfahren, dass noch bis vor einem Jahr aus purem Personalnotstand auch unqualifiziertere Leute eingestellt worden waren.
„Nach Abgleich der Fingerabdrücke auf den Tassen wissen wir hoffentlich mehr!“
„Die DNA konnte noch nicht ausgewertet werden. In zwei Tagen sollte das Ergebnis vorliegen“, ergänzte Gertrude und fuhr fort: „Frau von Hess-Prinz’ Fingerabdrücke waren auf jeden Fall auf den Tassen. Sie hat in ihrem Leben aber bestimmt keine Spritze in der Hand gehabt. Geschickte Hände hat sie allerdings. Ich habe sie vorhin beim Schreiben am PC gesehen. Sie antwortete mir auf meine Frage, dass sie mit ihrem Chef keine Probleme habe. Höchstens, dass sie sich andere Blumen wünsche. Ich denke, die Sekretärin können wir ausschließen. Der Oberarzt von Risseck hat mir zudem verraten, dass Muniel zu ihr als fast einzige Person freundlich war und sie, als er wieder bei Bewusstsein war, mit ihm witzig wie mit einem Vertrauten gesprochen habe.“
Joe nickte und fügte hinzu: „Wichtig ist, ob die ausgewerteten Fingerabdrücke auf der Tasse einer fremden noch unbekannten Person oder einem derzeit im Krankenhaus beschäftigten Mitarbeiter des Krankenhauses zugeordnet werden können.“ Er wies auf die rechte Seite des Flipcharts und schrieb Stichpunkte zum wahrscheinlichen Tathergang auf. „Der potentielle Mörder muss Herrn Muniel zuerst betäubt, am ehesten mit K.-o.-Tropfen, und dann versucht haben, ihn mit einer Spritze zu töten. Er hat das Zimmer verlassen, bevor der Oberarzt von Risseck ins Zimmer kam. Aber bringt uns das weiter? Wer ist diese Person? Dieser Doktor Gscheidle hat ja in unglaublicher Weise sofort das richtige Tötungsmittel vermutet. Der war gestern in Frankfurt auf einer Fortbildung. Ein Elektroencephalogramm des Gehirns von Muniel ist schon von Risseck angeordnet und vom Neurologen durchgeführt und bewertet worden. Es zeigt nur geringe Allgemeinveränderungen, sodass wohl kein schwerwiegender langzeitiger Sauerstoffmangel des Gehirns bestanden hat. Die Reanimation ist dank eines glücklichen Zufalls und der Kompetenz des Oberarztes gerade noch rechtzeitig erfolgt. Das ist positiv zu werten und kann auch auf die rechte Seite der Tafel gesetzt werden. Der Gedächtnisverlust um und vor dem Herzstillstand ist ein unbekannter Faktor und vorwiegend durch die wahrscheinliche Einnahme von K.-o.-Tropfen zu erklären. Welche Resterinnerungen hat Doktor Muniel, bevor er betäubt wurde und das Bewusstsein ganz verlor? Vielleicht ist das Gedächtnis um die Zeit des Herzstillstandes nur reversibel verschwunden und durch raffinierte Methoden wiederherzustellen.“ Joe dozierte jetzt ein wenig: „Fachchinesisch nennen die das ja anterograde Amnesie. Das weiß man als Kriminologe auch ohne Medizinausbildung, Gertrude!“
Die errötete leicht, sagte aber nichts darauf.
Joe fuhr fort: „Vielleicht kann man in der neurologischen Frührehabilitation, unter anderem durch Hypnose und das Nachstellen von Szenen und Bildern, unbewusste Inhalte wieder bewusst machen. In Washington haben die uns mal so einen Fall vorgespielt.“
Gertrude hing an seinen Lippen, obwohl sie manchmal genervt war, wenn Joe zu lange dozierte.
„Zum Thema Wiedererinnern gibt es angeblich sogar Studien an Freiwilligen mit vorgeführten Videosequenzen, vorwiegend Schreckensszenen wie brutale Vergewaltigungen. Vorher hatten die Probanden eine Kurznarkose mit Midazolam, wie es in K.-o.-Tropfen vorkommt, bekommen. Unmittelbar nach dem Abspielen der Szenen waren die Schreckensbilder wegen des Betäubungsmittels völlig aus der Erinnerung gelöscht. Nach mehreren Wiederholungen konnten plötzlich doch Bilder wiedererkannt werden. Angeblich gibt es auf diesem Gebiet auch Filme aus Guantanamo. Ich habe große Hoffnung, dass bei Muniel zumindest eine vage Erinnerung zurückkommt und wir eine klarere Spur und eine Person mit Gesicht verfolgen können“, tröstete Joe Moser sich und das Team. „Die Spurenauswertung an Muniels Körper wird nicht viel bringen, weil durch das Reanimationsteam viele Spuren beseitigt wurden.“ Joe wandte sich an seine Kollegin: „Gertrude, als du vorhin mit dem Toxikologen bei Muniel warst, hat dir da der Mai eine Einstichstelle gezeigt?“
Sie nickte. „Ja, glücklicherweise