Selbstführung in stürmischen Zeiten. Frieder Boller
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UNSERE WICHTIGSTE AUFGABE
VORWORT VON THOMAS HÄRRY
Bevor die nordamerikanischen Indianer dank den Spaniern zu Pferden und Gewehren kamen, jagten sie ihre Bisons mit einem einfachen, aber effektiven Trick: Mit Geschrei und wilden Gesten versuchten sie einzelne Tiere einer Herde zu erschrecken. Gelang dies, entstand eine sogenannte Büffelpanik: Wenn in einer Gruppe von Fluchttieren auch nur ein Tier panisch wird, geht ein Ruck durch die ganze Herde. Unvermittelt setzt sie zur kollektiven Flucht an, weil sich die Furcht und der Stress eines einzelnen Tieres in Sekundenschnelle auf die anderen übertragen. Die Herde weiß nicht, wo die Gefahr lauert und ob sie real ist. Aber sobald ein Bison wahrnimmt, dass die anderen neben ihm, vor oder hinter ihm zur Flucht ansetzen, beschleunigt auch er sein Tempo. Gelang es den Indianern, eine solche Büffelpanik anzuzetteln, mussten sie nur noch eines tun: die wild nach vorne preschende Büffellawine so lenken, dass sie auf einen Abgrund zuraste. Die kopflos gewordene Herde erkannte die Gefahr nicht. Ungebremst stürmte sie auf die Klippe zu, unfähig, die Richtung zu ändern. Die Tiere stürzten in die Tiefe, wo eine andere Gruppe von Jägern auf die zerschellten Tiere wartete. Abgestürzte Bisons zu erlegen war ein leichtes Spiel …
Wo Menschen miteinander unterwegs sind, lässt sich ähnliches beobachten: In Familien, Teams, Kirchgemeinden, Organisationen, ja, in ganzen Staaten kann es vorkommen, dass sich die Anspannung und Furcht Einzelner auf ihre Mitmenschen überträgt. Verunsicherte Menschen suchen ein Ventil. In der Hoffnung, sich selbst Erleichterung zu verschaffen, suchen sie Verbündete, die ihre Bedenken teilen. Doch wer seine Angst weiterträgt, halbiert sie nicht, er verdoppelt sie. Das gilt besonders dann, wenn sich sein Umfeld davon anstecken lässt. So können innert kurzer Zeit Beziehungssysteme in einen Zustand furchtsamer Erregung geraten – die Bisonherde lässt grüßen. Die Folge sind unüberlegte, von unnötiger Hektik und Angst geprägte Verhaltensmuster. Ganze Organisationen können im daraus resultierenden Gewirr aus Mobbing, Sofortkündigungen, Aufständen, Kungeleien, Verleumdungen, eskalierenden Konflikten, Strafaktionen und Machtgebaren destabilisiert werden und sich selbst schachmatt setzen.
Doch es muss nicht so weit kommen. Das Beste, was wir Menschen angesichts entfesselter Dynamiken tun können, ist, uns selbst zu führen. Was das heißt, begann ich vor rund zwanzig Jahren zu verstehen, als ich Leiter einer größeren Kirche wurde. In den Jahren zuvor hatte diese Gemeinde einige Krisen erlebt. Schon bald war ich als Pfarrer mit mancher Unsicherheit konfrontiert, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hatte, aber in die Gegenwart nachwirkte. Ich suchte nach Wegen, wie ich damit (und mit einigen meiner Führungsfehler darin) besser umgehen konnte. Ich begann zu verstehen, dass der Schlüssel guten Leitens primär in meinem eigenen Verhalten lag. Ich kam immer dort nicht vom Fleck, wo ich von anderen erwartete oder gar forderte, dass sie dieses oder jenes tun oder nicht tun sollten. Und so suchte ich nach der rechten Haltung für mich selbst. Eines Tages begegnete ich dem folgenden Zitat des Managementvordenkers Peter Drucker: „Die meisten Führungskräfte werden sich in ihrem ganzen Leben nicht bewusst, dass sie nur eine Person zu führen haben, nämlich sich selbst.“ Dieser Satz öffnete mir eine Türe. Er gab mir die passende Bezeichnung für das, was ich mehr und mehr als meine Aufgabe verstand: Es geht darum, dass ich mich selbst führe. Gute Führung ist nichts anderes als die Frucht guter Selbstführung. Dieses Thema ließ mich nicht mehr los. Ich entdeckte, wie deutlich auch die Bibel über das damit verbundenen Anliegen spricht, zum Beispiel Paulus in Apostelgeschichte 20,28: Gebt acht auf euch selbst, und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist als fürsorgliche Hirten eingesetzt hat … (vgl. auch Galater 6,1–5). Schon für Paulus war klar: Gute Führung beginnt bei der Führungsperson; sie beginnt mit Selbstführung.
Einige Zeit später besuchte ich eine vom Institut Compax für Konflikttransformation angebotene Weiterbildung auf dem Bienenberg im schweizerischen Liestal. Auch hier ging es um diese entscheidende Frage: Wie führt eine Führungskraft sich selbst inmitten des angespannten Beziehungssystems einer Organisation? Was kann sie dazu beitragen, damit sie angesichts einer sich abzeichnenden Büffelpanik nicht mitgerissen wird – und auch selbst keine verursacht? Dabei lernte ich Frieder Boller, den Autor dieses Buches, und die anderen Mitarbeitenden des Instituts Compax kennen und schätzen. Mit ihrer Vermittlung der wegweisenden Studien von Murray Bowen und Edwin Friedman, den Pionieren der Familiensystemtherapie, leisten sie im deutschsprachigen Raum eine enorm wichtige Multiplikationsarbeit. Während in vielen Organisationen und Kirchen der USA seit Jahrzehnten mit diesen Erkenntnissen gearbeitet wird, gibt es im deutschsprachigen Raum viel Nachholbedarf. Denn die in einem Beziehungssystem angewendete Selbstführung trägt wesentlich zu einer gesunden Dynamik in einer Familie, einer Gruppe oder Organisation bei. Dabei ist es besonders hilfreich, wenn die sich selbst führende Person aus den Quellen des christlichen Glaubens schöpft. Denn gute Selbstführung ist nicht so sehr ein Akt des Willens und Könnens. Sie ist Gottes Geschenk an dafür offene Menschen.
Ich freue mich deshalb außerordentlich über das vorliegende Buch von Frieder Boller. Es gehört in die Hand jeder Führungsperson, egal, ob sie ein Team führt, in einer Kirche oder in der Wirtschaft tätig ist. Genauso empfehle ich dieses Buch allen Eltern, Erzieherinnen und Erziehern. Ich hoffe, dass angehende Lehrkräfte und Leitungspersonen sich bereits in ihrer Ausbildung gründlich mit den hier präsentierten Inhalten auseinandersetzen. Besonders freut es mich, dass dieses Buch zur Erarbeitung in Gruppen ermutigt und mit Vertiefungsmöglichkeiten im Internet verknüpft ist. Damit wird das Thema anschaulich und praktisch erschlossen.
Deshalb: Lassen Sie sich von diesem Buch inspirieren! Lernen Sie Wege kennen, inmitten einer Büffelpanik Gott zu vertrauen und besonnen zu bleiben. Lernen Sie, sich selbst zu führen und gerade damit anderen zu geben, was sie am meisten brauchen: Orientierung und gelassene Präsenz.
Aarau, im Frühjahr 2020
Thomas Härry
Autor (Von der Kunst, sich selbst zu führen,
Die Kunst des reifen Handelns u. v. m.), Berater von Führungskräften und Dozent am TDS Aarau, HF Kirche und Soziales.
„Wenn die Wurzeln tief sind, braucht man den Wind nicht zu fürchten.“