Selbstführung in stürmischen Zeiten. Frieder Boller
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Es gibt kein Leben ohne Ängste und Spannungen. Das gilt für jede einzelne Person genauso wie für jede Gruppe von Personen, also für jedes emotionale System. Und das ist gut so. Als emotionaler Schmerz signalisiert Angst uns Gefahr. Gewöhnlich werden dabei Angst und Furcht unterschieden.
Furcht ist konkret und klingt schnell ab, wenn das Licht angemacht wird und die Eltern unterm Bett nachschauen, ob dort wirklich kein Monster liegt. Und die Furcht vor einem Unfall klingt ab, wenn der Fahrer das Tempo des Wagens spürbar verlangsamt und umsichtiger fährt.
Angst ist unbestimmter, anhaltender. Sie geht jeden Tag mit einem ins Büro und wieder nach Hause, wenn unklar ist, ob und wie die Geschäftsentwicklung personelle Konsequenzen haben könnte. Angst vor dem Ungewissen und der Leere schleichen sich ein, nachdem die Freiheits- und Urlaubsgefühle der ersten Wochen des Ruhestandes allmählich vergehen.
Beides trägt insofern Angst-Spannung in sich, als die Betroffenen in der Situation angespannt, unwohl, innerlich unruhig und erregt eine Gefahr oder Unannehmlichkeiten erwarten und ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen bedroht sehen.
Nun vermeiden viele Menschen lieber Begriffe wie Furcht und Angst. Sie erscheinen ihnen in einer bestimmten Situation als übertrieben oder sie (miss-)verstehen sie als Schwäche, die sie nicht zeigen möchten. Man würde jedoch vielleicht zugeben, „ein wenig angespannt“ zu sein.
Mit dem Kunstwort Angst-Spannung wollen wir die ganze Bandbreite von mulmigen Gefühlen wie Anspannung, Aufregung, Beunruhigung, Ängstlichkeit, Beklemmung, Besorgnis, Sorge, Furcht, Angst oder Panik abdecken. Die hier wirksame emotionale Kraft kommt jedoch aus dem, was das Wort Angst in seiner lateinischen Wortbedeutung beschreibt: angustus/angustia steht für „Enge, Beengung, Bedrängnis“. Was auch immer der Auslöser dafür ist, wir fühlen uns bedroht in unserer emotionalen Sicherheit oder körperlichen Unversehrtheit. Es spielt auch keine Rolle, wie real oder irreal die Gefahr für Leib und Leben ist. Auch eingebildete Gefahren lösen Ängste und Spannungen aus. Und Ängste drängen uns, eine lebensschützende und lebenserhaltende Lösung zu finden. Die klassische instinktive Reaktion auf Gefahr ist flüchten oder standhalten und kämpfen. Was Ängste und Spannungen auslöst und in welchem Maß das geschieht, ist von Person zu Person und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich.
Festzuhalten ist:
?Welche Situation kommt Ihnen in den Sinn, in der Sie (kürzlich) Angst-Spannung erlebten?
Jeder Mensch erfährt und lernt zunächst einmal den Umgang mit Ängsten und Spannungen zu Hause in der Kindheit. Was hat dort Angst-Spannungen ausgelöst? Streitereien? Eine chronische Krankheit? Schulnoten? Schläge? Ein Todesfall? Leistungserwartungen? Mobbing? Scheidung der Eltern? Missbrauch? Vernachlässigt werden? Geheimnisse? Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen? Dieses emotionale System unserer Herkunftsfamilie hat uns geprägt. Doch auch andere Lebenserfahrungen spielen eine Rolle. Zum Beispiel zurückliegende belastende traumatisierende Erfahrungen, die ihre tiefen Spuren in uns hinterlassen haben und sich darauf auswirken, worauf und wie wir mit Angst-Spannungen reagieren. Immer stellt Angst-Spannung einen Menschen oder eine Gruppe vor die existenzielle Frage: „Schaffe ich das?“ „Fühle ich mich sicher genug, stark genug, um damit fertig gut zu werden?“
?Wo und wie habe ich in meiner Herkunftsfamilie Angst-Spannungen wahrgenommen?
Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen?
Angst-Spannung – was dabei im Hirn passiert
Der Neurobiologe Gerald Hüther erklärt:
Jede schwerwiegende Irritation oder Belastung erzeugt im Hirn eine sich ausbreitende Erregung, die dazu führt, dass nur auf der Ebene der besonders stabilen, durch bisherige Erfahrungen bereits gut gebahnten Verhaltensmuster ein entsprechendes handlungsleitendes Aktivierungsmuster aufgebaut werden kann. Deshalb führt jeder Leistungs-, Erwartungs-, Handlungs- oder sonstiger Druck zum Rückfall in bereits bewährte Strategien, bisweilen sogar zu Reaktionen, die schon während der frühen Kindheit eingeübt worden sind.
Je größer der Druck und die dadurch sich im Gehirn ausbreitende Erregung wird, desto tiefer geht es also auf der Stufenleiter der noch aktivierbaren, handlungsleitenden Muster hinab. Das Verhalten wird einfacher. Weil im Hirn weniger regionale Netzwerke miteinander synchronisierbar sind und miteinander in Beziehung treten können, werden die Reaktionen auch entsprechend robuster und eindeutiger.
Um wieder zu komplexeren handlungsleitenden Mustern zu gelangen, muss der äußere Druck nachlassen bzw. das innere Erregungsniveau abgesenkt werden. Erst dann können wieder hochvernetzte, subtilere und fragilere Beziehungsmuster zwischen möglichst vielen Nervenzellen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen des Gehirns aufgebaut und als handlungs- und denkleitende Muster aktiviert werden.4
Unter Angst-Spannung den Kopf verlieren oder einen kühlen Kopf bewahren
Wer entspannt und gelassen ist, „funktioniert gut“, weil er mit dem, was kommt, unverkrampft und fokussiert umgehen kann. Wir haben dann ein relativ breites Handlungsrepertoire, um mit unterschiedlichen Situationen und Herausforderungen umzugehen. Wer aber unter hoher Angst-Spannung steht, wird rigide und hat nur wenige Handlungsoptionen zur Verfügung.
Die Handbewegung streift das Trinkglas. Es kippt um und sein Inhalt ergießt sich über Tisch und Hosen.