Sozialphilosophie, Teil 1. Norbert Brieskorn

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Sozialphilosophie, Teil 1 - Norbert Brieskorn

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      Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

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      SOZIALPHILOSOPHIE

      Der einzelne in der Gesellschaft

      Prof. Dr. Norbert Brieskorn SJ

      1. Einführung in eine Philosophie des gesellschaftlichen Lebens

      In den Vorlesungen beschäftigen wir uns mit Sozialphilosophie. Der Untertitel, den ich gewählt habe, ist: Eine Philosophie des gesellschaftlichen Lebens.

      Ich werde ihnen zuerst eine Einführung geben. Danach werden wir uns mit dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft beschäftigen, bevor wir – nach der Auseinandersetzung mit einigen Wissenschaften, die sich mit Gesellschaft beschäftigen – zu einer Definition kommen.

      Zuerst also die Einführung. Wir können sie nennen: Der Fall Heinz Rühmann. Das Leben des Schauspielers Heinz Rühmann, der von 1902 bis 1994 gelebt hat, zeigt uns, wie sich Gesellschaft im technischen und besonders medialen Bereich gewandelt hat. Vom Stummfilm über den Tonfilm, schließlich hin zum Farbfilm verlief die Entwicklung, die man begeistert begrüßt und auch heftig bekämpft hat. Diese Entwicklung hob die einen empor und ließ andere fallen, machte einige reich und ließ viele leer ausgehen. Die Zeit besorgte sich begabte Vollstrecker, brandmarkte Mitwirker als unbrauchbar, ernährte die einen ausreichend, gab andere dem Hunger preis und trieb so ein grausames, vom Einzelnen gar nicht einflußbares Spiel.

      Es entschied sich für Rühmann als Mitspieler und entließ ihn eines Tages als müde gewordenen Sieger. Dieser Entwicklung lag keine ausgetüftelte Blaupause zugrunde, auf die sich Menschen im Voraus geeinigt hatten. Erst allmählich gelang es, auf den Begriff zu bringen, was hier abgelaufen war.

      Heinz Rühmanns Leben wurde in Zerreißproben hinein gerissen, die er selbst weder verursacht noch herbei gewünscht hatte. Nur eine sei genannt: Das nationalsozialistische Regime stellte ihn vor die Entscheidung, entweder seiner jüdischen Frau die Treue zu halten und dann von der Bühne verbannt zu werden oder nach Scheidung von seiner Frau weiterspielen zu können. Später gestand Rühmann ein, dass der Spieltrieb, ja geradezu die Sucht, auf den Brettern zu stehen und Rollen zu gestalten, den Sieg in diesem Konflikt davongetragen und er sich von seiner Ehefrau getrennt hatte.

      Schließlich begegnen wir 1956 Heinz Rühmann als Hauptmann von Köpenick im gleichnamigen Stück von Carl Zuckmayer aus dem Jahre 1930. Mit seiner klaren und unendlich traurigen Stimme liest der arbeitslose, verarmte Schuster Wilhelm Voigt, der spätere Hauptmann, dem sterbenden Liesken das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vor, in dem der Esel zum Hahn sagt: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ So wie Rühmann die Worte in diesem Satz betont, werden wir vom Gegenteil überzeugt. Dass nämlich der Tod dem vorzuziehen ist, was die Gesellschaft den Menschen anbietet. Worauf deutet nun dieses Beispiel hin?

      In ihm werden Wandlungen der Gesellschaft sichtbar. Vorgänge, welche uns wie ein ungebärdiger Fluss in ihre Gewalt reißen, in Strudel ziehen oder ans Ufer ausspeien. So hat es Niccolò Machiavelli im 25. Kapitel seiner Schrift Der Fürst aus dem Jahre 1513 ausgedrückt.

      Wir sehen aber auch, dass inmitten solcher Mächte Menschen handeln, Verantwortung übernehmen und zu Folgen stehen können. Sie vermögen es, um noch einmal Machiavelli zu bemühen, Vorkehrungen zu treffen, Dämme und Deiche zu errichten, überflutbare Flächen zu öffnen oder den einen aus den Fluten zu retten und den anderen in diese zu stoßen.

      Wer eine solche Situation nicht direkt geschaffen hat, wird von ihr und in ihr zu Entscheidungen gezwungen. So werden Menschen zu Opfern von Konflikten, die sie nicht selbst erzeugt haben. Oder sie leiden ebenso unter der Unterdrückung durch ein Regime wie der Erkenntnis, dass sie lange vor dessen Machtergreifung den Aufstieg des Regimes hätten blockieren müssen. Wem aber steht das Recht zu, ihnen vorzuwerfen, einen Parteiführer und seine Partei nicht verhindert zu haben? Machiavelli warnt bereits im 3. Kapitel des Fürsten:

      „Gegen das Übel, das man von Ferne sieht, kann man leicht ein Mittel finden. Wartet man aber, bis es da ist, so kommt die Arznei zu spät, weil die Krankheit unheilbar geworden ist. Es verhält sich hiermit wie mit der Schwindsucht, die, wie die Ärzte sagen, im Anfang des Leidens leicht zu heilen, aber schwer zu erkennen ist. Wird sie aber anfangs nicht erkannt und behandelt, so lässt sie sich in der Folge leicht erkennen und schwer heilen.“

      Solche Hellsichtigkeit und Tatkraft findet sich nur bei Wenigen und wenn, wird man auf diese Wenigen hören?

      Die uns aufgezwungenen Entscheidungen verletzen uns, doch nicht nur uns. Denn handelnd geben wir den Zwang weiter und treten dann selbst anderen als Täter oder als unausweichliches Schicksal gegenüber. Doch selbst eine mit Auswahlmöglichkeiten getroffene verantwortete Entscheidung hat Folgen, und wer sie seinerseits zu spüren bekommt, fühlt sich behandelt. Auch wir sind doch eher geneigt, in dem anderen einen Täter als ein Opfer zu sehen. Manche sehr persönlich getroffene Wahl zwischen zwei Möglichkeiten schafft Opfer in der Linie der gewählten wie nicht gewählten Alternative.

      Freiheit hat zweierlei Facetten: Handlung des Täters und Behandlung des Opfers. Alle möglichen Betroffenen von vornherein mit in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, setzt voraus, um sie zu wissen.

      Dies ist mangels eines zeit-und raumübergreifenden Standpunktes meist verwehrt. Versuche in diese Richtung überfordern uns bereits angesichts der immer knappen Zeit. Schließlich können wir die Beziehung von Tätern und Opfern so eng wie nur möglich ziehen, um dann beide – Täter wie Opfer – in ein und demselben Menschen anzusiedeln. So jammert man auf der Autobahn über einen Stau, in dem man mitten drin steckt, nicht sehend, dass man doch selbst zugleich auch Ursache der beklagten Wirkung und Teil des Problems ist.

      Eine Gesellschaft, welche weder kosmische Gesetze noch emotional handelnde Götter oder einen blinden Schicksalsspruch als Quelle der gesellschaftlichen Veränderungen anerkennt, sondern allenfallsdenMenschen, führtuns so eindringlich vor Augen, dass menschliches Handeln menschliches Leiden verursacht. Insofern ist die Gesellschaft eine Stätte der Fremd-und Selbstbegegnung, Selbstbeglückung und Selbstquälerei. Wo sich Gesellschaft ab der europäischen Neuzeit als Werk des frei handelnden Menschen versteht, da hat der Mensch selbst, er und er allein, die Verantwortung für sie übernommen. Schon dadurch, dass er für sich Verantwortung übernahm. Denn er ist ein mit allen anderen zusammenhängender Bestandteil.

      Menschen zeichnen ebenso gern für den Erfolg verantwortlich wie sie die Verantwortung für den Misserfolg abstreiten. Wenn das Abwälzen der Verantwortung nicht gelingt, so erstaunt es nicht, dass diese gänzlich geleugnet wird. Wir bringen immer wieder neu Gesetze ins Spiel, denen wir ausgeliefert seien, bis dahin, dass man noch radikaler ansetzend die Freiheit selbst leugnet. Dort also, wo Freiheit und freies Handeln eben noch zum beherrschenden Moment aufgerückt waren, schleichen sich Unbehagen und Unsicherheit ob der größer werdenden Verantwortung ein und untergraben den Stolz über sie.

      Zweifel an der Freiheit werden weiter bleiben und wieder zum Zweifel an der bezweifelten Freiheit führen. Doch verharrt diese Selbstbefragung in einer Unsicherheit, ohne zu einem neuen, tragfähigen Sicherheitsgefühl zu verhelfen.

      So sehr wir uns allerdings als Spielball fremder, nicht gewählter Interessen fühlen, so sehr gelingt es uns zumindest auch eigene Situationen zur Sprache zu bringen – und sei es, indem der arbeitslose verarmte Schuster Voigt das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vorliest. Mit seiner Anschaulichkeit lassen sich Elend und Ungerechtigkeit sogar ehrlicher und nachhaltiger als mit Zahlen und Statistiken verdeutlichen. Opfer finden sich leichter in den Geschichten wieder als jene, die sie angerichtet haben. Oft bedürfen sie der Hilfen, so wie sie in unserem Fall von

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