Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch

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Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch

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      »Statistisch deshalb, weil es so viele Teilchen sind«, dachte sie laut und gewann langsam ihre Fassung wieder.

      »Ja, die Statistische Physik stellt Begriffe und Methoden zur Verfügung, mit denen aus bekannten physikalischen Naturgesetzen über Teilsysteme Aussagen über das System im Ganzen getroffen werden können. Um das Fließen von einem Liter Wasser zu beschreiben, ist es mehr als impraktikabel, die Wege aller 3,3 mal 1025 Wassermoleküle einzeln auf atomarer Ebene verfolgen zu wollen.«

      Sie war fasziniert. Und doch zweifelte sie an seinen Ausführungen, nicht nur wegen der großen Zahlen.

      Während sie darüber nachdachte, spürte sie ein Streicheln an ihrem rechten Bein, erschrak ein wenig und schaute nach unten. Eine Katze. Schwarz-weiß getigert schaute sie zu ihr auf. Sie liebte Katzen über alles. Als Kind hatte sie immer eine Katze gehabt, jetzt aber nicht mehr. Hier eine Katze, dachte sie unwillkürlich, und dazu auch noch in der Bibliothek?

      Die Katze umkreiste ihr rechtes Bein, nahm sich dann das linke vor und fing an, zu schnurren. Sie nahm die Katze auf den Arm, was diese offensichtlich herausgefordert hatte, und streichelte sie, was den Grad des Schnurrens deutlich erhöhte. In diesem Zustand des Streichelns und Genießens verharrten beide für einen längeren Moment, als ob sie schon immer zusammen gewesen wären. Zuneigung auf den ersten Blick. So etwas gab es zwischen Mensch und Katze.

      Später stellte sich heraus: Die Katze war dem Hotel vor Kurzem zugelaufen, vielleicht war sie als blinder Passagier in einem Lieferwagen auf den Berg gekommen. Die Angestellten liebten und fütterten sie. Sie durfte eigentlich nicht in das Haupthaus. Sie schaffte es aber doch ab und zu, unbemerkt hierherzukommen. Jetzt war sie durch die leicht geöffnete Tür hineingeschlichen.

      Ohne das Streicheln der schnurrenden Katze zu unterbrechen, griff sie die Diskussion wieder auf: »Wirklich phänomenal, was sich da unten bei den kleinen Teilchen abspielt«, sagte sie. »Aber welche Konsequenzen kann ich daraus für unsere Welt ableiten? Hat die Berücksichtigung der Anzahl der vielen Mikrozustände wirklich Auswirkungen für das Verständnis der Entwicklung unserer Welt? Und gibt uns diese Einsicht den Zugang zur Entropie?«

      »Ja, die Veränderung des Blickwinkels in Richtung Mikrokosmos gibt uns den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Entropie und damit zur Erklärung der Geschehnisse in der von uns wahrnehmbaren Welt.

      In die Entropieberechnung fließt die Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung auf der Mikroebene ein, die einen gleichen Makrozustand erzeugen.27 Habe ich diese Zahl ermittelt, kann man die Teilchen innerhalb dieser Möglichkeiten mikroskopisch beliebig umsortieren, ohne dass sich an dem für uns wahrnehmbaren (Makro-)Zustand, also an Temperatur oder Druck etc. etwas ändert. So wird die Entropie als eine Abzählung von Zuständen verstanden, oder vielleicht etwas präziser, eine Suche nach der Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung, die denselben Gesamteindruck in unserer Welt hervorbringen.

      Zentrale Annahme von Boltzmann war nun, dass kein Mikrozustand bevorzug ist, alle Mikrozustände mit gleicher Gesamtenergie gleich wahrscheinlich sind. Am wahrscheinlichsten ist dann der Zustand, zu dem die meisten Mikrozustände gehören28, die größtmögliche Anzahl der Möglichkeiten der Teilchenanordnung erreicht ist, vereinfacht gesagt, alle verfügbaren Plätze belegt sind. Der wahrscheinlichste Makrozustand besitzt also die meisten ihn realisierenden Mikrozustände.29 Dies ist der (thermodynamische) Gleichgewichtszustand, in dem die Teilchen ihre Energien durch Stöße angepasst und somit eine Gleichgeschwindigkeitsverteilung erreicht haben.

      Durch die Einbeziehung der Mikrozustände kann die Wahrscheinlichkeit der Veränderung eines Makrozustandes viel genauer bestimmt werden. Vergleiche ich die Entropiegröße eines Zustandes mit der eines anderen Zustandes, weiß ich sofort, ob es wahrscheinlich ist, dass die Teilchen in den anderen Zustand wechseln oder nicht. Und wenn das unwahrscheinlich ist, weil der Zustand mit einer größeren Entropiegröße niemals in einen mit einer geringeren Entropiegröße wechseln wird, können wir auf einmal verstehen, warum noch nie jemand beobachtet hat, dass sich Whiskey nicht der für ihn unwürdigen Vermischung in einem ›Whiskey-Cola‹ spontan dadurch entledigt, dass sich der Whiskey zum sofortigen Verzehr oben im Glas ansammelt, während die Cola sich auf den Boden des Glases verdrückt. Diesen Weg von der Vermischung zurück in einen höheren Grad der Ordnung werden die Teilchen nicht gehen. Diese Umordnung ist absolut unwahrscheinlich, obwohl sie wünschenswert wäre, nicht zuletzt, weil Whiskey-Cola wirklich unordentlicher ist, als Whiskey.«

      Sie schmunzelte.

      »Wie fein dieses Maß der Zustände in der atomaren Welt ist, zeigt sich, wenn wir uns die absolute Zahl der Mikrozustände vergegenwärtigen, mit der wir es da unten zu tun haben«, fuhr er fort. »Es sind astronomische Zahlen, die sich da ergeben. In einem Gasbehälter, wie wir ihn vorhin behandelt haben, befinden sich ungefähr 1023 Teilchen, sodass die Zahl der möglichen Zustände, die diese Teilchen einnehmen können, eine Zahl mit 1025 Nullen ist. Also nicht die Zahl 1025, das wäre eine Zahl mit 25 Nullen, sondern eine Zahl mit 1025 Nullen.30

      In einem Gasbehälter gibt es mehr Teilchen, als Menschen bisher auf der Erde gelebt haben oder vermutlich dort jemals leben werden. Aber die Zahl der dort möglichen Mikrozustände ist ungleich unbegreiflicher. Selbst ein unsterblicher Mensch hätte die Zahl der möglichen Mikrozustände bislang nicht aufschreiben können, denn dafür würde man länger brauchen, als das Universum existiert.«

      Sie war tief ergriffen von den Größenordnungen und Zeitskalen, mit denen er sie immer wieder konfrontierte.

      »Oh, schauen Sie, das ganze Eis in Ihrem Wasser ist geschmolzen«, sagte er vermeintlich überrascht. »Die Entropie hat zugeschlagen. Ein klassisches Beispiel für einen selbstablaufenden Prozess. Auch bei diesen automatischen Vorgängen steigt die Entropie an. Die schöne Ordnung der Eiskristalle im Eiswürfel ist dahin.

      Die Unordnung nimmt zu, die Informationen nehmen ab.«

      »Moment«, hakte sie ein. »Informationen wovon? Was hat die Entropie mit Informationen zu tun?«

      »Ganz einfach«, antworte er und lächelte vielsagend. »Je größer die Entropie ist, desto unbestimmter ist der mikroskopische Zustand, und je unbestimmter ein Zustand ist, desto weniger Informationen sind über das System bekannt. In Eis kann man eine Botschaft schnitzen, in geschmolzenes Eis nicht.

      So vergeht mit der Zeit auch das Zeugnis einer großen Liebe, wenn das Holz des Baumes irgendwann langsam verfault, obwohl die Liebeserklärung seinerzeit doch für die Ewigkeit eingeritzt worden war.«

      Mitten in ihrer tiefgreifenden Diskussion wurden sie plötzlich gestört. Eine junge, hübsche Frau betrat die Bibliothek. Die Katze sprang von Leas Schoß und lief hinaus. Die Frau sagte: »Herr Dietrich, da sind Sie ja, kann ich Sie kurz sprechen.« Und zu Lea gewandt: »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

      Lea war etwas perplex. Damit hatte sie nun wahrlich nicht gerechnet. Na ja, vielleicht war es irgendeine Therapeutin.

      »Es ist Mittagszeit. Ich gehe zum Essen. Wir waren ja ohnehin zu Ende mit unserer interessanten Diskussion«, sagte sie mit vermeintlich fester Stimme, konnte ihren bedrückten Zustand aber nicht ganz verheimlichen.

      »Wir sind noch lange nicht zu Ende«, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln. »Treffen wir uns hier um drei?«

      Sie nickte.

      »Und nicht weglaufen«, fügte er hinzu.

      »Wo soll ich denn hinlaufen bei diesen Wetterverhältnissen«,

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