Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon

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Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon Georges Simenon

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kleinen Schneider, dem kaum etwas anvertraut wurde außer Ausbesserungen oder Anzügen zum Wenden und dessen älteste Tochter als Verkäuferin bei Prisunic arbeitete.

      Um sich die zwanzigtausend Franc zu verdienen, konnte man nicht mir nichts, dir nichts eine Anschuldigung in die Welt setzen. Man hätte den Mörder nicht vorwarnen sollen.

      Jetzt wusste es Monsieur Labbé. Und Monsieur Labbé, der seit dem 13. November – das heißt binnen zwanzig Tagen – fünf alte Frauen umgebracht hatte, würde sich seiner leicht entledigen können.

      Hatte Kachoudas Zeit, all das zu bedenken? Der Hutmacher berührte die Fingerspitzen von jedem seiner Freunde. Man sagte zu ihm:

      »Guten Abend, Léon.«

      Denn er hieß ja Léon. Er klopfte dem Doktor, der beim Kartengeben war und keine Hand frei hatte, auf die Schulter, worauf der Doktor grummelte:

      »Gute Besserung für Mathilde.«

      Man hätte schwören können, dass er absichtlich langsam machte, um Kachoudas Zeit für eine Entscheidung zu geben. Sein Gesicht war dasselbe wie vorhin, als Valentin ihn die Wendeltreppe hatte herunterkommen sehen. Früher war er mal dick gewesen, vielleicht sogar fett, hatte aber mächtig abgenommen, was man an seinen weichen Linien, an seinen schlaffen Zügen merkte. Nach wie vor wog er bestimmt doppelt so viel wie Kachoudas.

      »Bis morgen.«

      Der Zeiger hatte gerade das halbe Zifferblatt durchschritten, da fiel die Tür ins Schloss und griff sich Kachoudas vom Nachbarstuhl seinen Mantel. Um ein Haar wäre er ohne zu zahlen gegangen, so sehr hatte er Angst, Monsieur Labbé könnte um die Ecke in die Rue du Minage gebogen sein, ehe er selber draußen war. Dann nämlich wären alle Fallen möglich. Allerdings nach Haus musste er ja schließlich.

      Monsieur Labbé ging mit seinen gleichmäßigen Schritten, weder langsam noch schnell, und zum ersten Mal fiel dem kleinen Schneider auf, dass er extrem leichtfüßig war, wie die meisten Dicken oder früher mal Dicken, und dass er beim Gehen keine Geräusche machte.

      Er bog nach rechts in die Rue du Minage. Kachoudas folgte ihm in ungefähr zwanzig Metern Abstand, indem er achtgab, in der Mitte der Straße zu bleiben. Im Notfall bliebe ihm immer noch Zeit zu schreien. Zwei, drei Geschäfte, deren Beleuchtung man durch den Regen sah, hatten noch geöffnet; in fast sämtlichen Wohnungen war in den oberen Etagen Licht an.

      Monsieur Labbé ging auf dem linken Trottoir, dem der Hutmacherei, aber anstatt dort anzuhalten, setzte er seinen Weg fort und wandte, als er ein bisschen weitergegangen war, den Kopf, vielleicht um sicherzugehen, dass sein Nachbar ihm weiterhin folgte – was im Übrigen überflüssig war, da man ja Kachoudas’ Schritte auf dem Pflaster hörte.

      Der kleine Schneider hätte zu sich nach Haus gehen können. Der Weg war frei. Sein Laden war noch geöffnet, und er hätte sogar Zeit gehabt, rasch den Riegel vorzuschieben. Durch das Fenster im ersten Stock sah er das Stück Kreide, das neben der Glühbirne über dem Tisch baumelte. Die Kleinen waren aus der Schule zurück. Esther, die Älteste, die von Prisunic, würde um kurz nach sechs nach Haus kommen, und zwar im Laufschritt, weil auch sie Angst vor dem Mörder hatte und keine ihrer Kolleginnen im Viertel wohnte.

      Er ging weiter. Er bog nach links, wie Monsieur Labbé, sodass sie sich einen Moment lang beide in einer etwas helleren Straße befanden. Es war beruhigend, Leute in den Geschäften und hin und wieder ein Auto vorbeikommen zu sehen, das klatschend durch die Wasserpfützen fuhr.

      Es gab keine Arkaden mehr, und so regnete es jetzt ungehindert auf Monsieur Labbés Schultern. Die Straße wurde wieder dunkel. Mal verschwand der Hutmacher, und mal tauchte er im Lichtkreis einer Laterne wieder auf, während Kachoudas genau in der Straßenmitte blieb, starr vor Schrecken die Luft anhielt und trotzdem außerstande war umzudrehen.

      Wie viele Freiwilligenpatrouillen gab es zu dieser Stunde in der Stadt? Wohl vier oder fünf, ja sogar junge Leute mit Taschenlampen, die das Ganze lustig fanden. Es war die berüchtigte Zeit. Drei der alten Frauen waren zwischen halb sechs und sieben Uhr abends ermordet worden.

      Nacheinander erreichten sie das ruhige Museumsviertel mit dessen einstöckigen Häuschen, wo man hier und da hinter Fensterscheiben Familien versammelt sah, Kinder, die ihre Hausaufgaben machten, Frauen, die schon den Tisch fürs Abendessen deckten.

      Unvermittelt verschwand Monsieur Labbé im Dunkeln, worauf Kachoudas, als würde er etwas Wesentliches vermissen, nach einigen Schritten innehielt: Aufgrund der auf der Straße herrschenden Finsternis war es ihm unmöglich, seinen Nachbarn auszumachen. Stand er vielleicht in irgendeiner Nische? Oder bewegte er sich womöglich doch? War er nicht in der Lage, völlig geräuschlos von hier nach da zu gelangen? Nichts deutete darauf hin, dass er sich dem kleinen Schneider näherte, und doch blieb der erstarrt stehen, wie von Eiseskälte durchdrungen.

      Nicht weit von ihm hörte er Klaviertöne. Ein schwacher Lichtschein sickerte durch die Jalousien eines Hauses. Ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge bekam in einem hell erleuchteten Zimmer Musikunterricht und spielte unermüdlich dieselben Tonleitern.

      Kein menschliches Wesen bog in die Straße, weder an dem einen noch am anderen Ende, und Monsieur Labbé hielt sich weiterhin irgendwo verborgen, geräuschlos, unsichtbar, während sich Kachoudas den Häusern nicht zu nähern wagte.

      Das Klavier verstummte, und es herrschte vollkommene Stille. Dann der dumpfe Laut des Deckels, der zurück auf die weißen und schwarzen Tasten klappte. Licht hinter einer Tür, gedämpfte Stimmen, durchdringender, sobald zwanzig Meter weg von dem kleinen Schneider die Tür aufging, indessen die Regentropfen sich in Funken verwandelten.

      »Wollen Sie da wirklich raus, Mademoiselle Mollard? Es wäre doch viel sicherer, Sie warten, bis mein Mann aus dem Büro kommt. Er muss in fünf Minuten hier sein.«

      »Für die fünfzig Schritte bis zu mir! Gehen Sie schnell wieder rein! Erkälten Sie sich nicht. Bis nächsten Freitag.«

      Es war ein Freitag. War es nicht so, dass das kleine Mädchen (oder der kleine Junge) jeden Freitag zwischen fünf und sechs Uhr Klavierunterricht bekam?

      »Ich lasse meine Tür auf, bis Sie zu Hause sind.«

      »Das kommt gar nicht infrage! Damit das ganze Haus auskühlt! Wo ich Ihnen doch sage, dass ich keine Angst habe.«

      Anhand ihrer Stimme stellte Kachoudas sie sich klein vor und dürr, ein bissel runtergekommen, ein bissel gekünstelt. Er hörte sie die Stufen hinabgehen, das Trottoir betreten. Die Tür, für einen Moment noch offen, ging schließlich zu. Er hörte sich schon schreien. Er wollte schreien. Aber es war schon zu spät. Außerdem wäre er körperlich dazu gar nicht in der Lage gewesen.

      Es machte kein lauteres Geräusch als, zum Beispiel, in einem Hochwald ein auffliegender Fasan. Wahrscheinlich Geraschel der Kleidung. Jeder in der Stadt wusste, wie es passierte, unwillkürlich fuhr sich Kachoudas mit der Hand an die Gurgel, stellte sich die Cellosaite vor, die den Hals einschnürte, und mühte sich dann, seine Erstarrung abzuschütteln.

      Er war sich sicher, dass es vorbei war, dass er sich schleunigst davonmachen, sofort eine Polizeiwache aufsuchen musste. Es gab eine in der Rue Saint-Yon, gleich hinter dem Markt.

      Er glaubte, vor sich hin gebrabbelt zu haben, dabei hatte er lautlos bloß die Lippen bewegt. Er ging. Es war ein Triumph. Noch schaffte er es nicht, zu rennen. Aber war es nicht sogar besser, hier nicht zu rennen, in den Straßen, wo der andere genauso rennen, ihn einholen, ihn fertigmachen konnte, so wie er gerade das alte Fräulein fertiggemacht hatte?

      Ein

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