Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe Klassiker bei Null Papier

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zwölf, kam ich in Frank­furt am Main auf die Welt. Die Kon­stel­la­ti­on war glück­lich: die Son­ne stand im Zei­chen der Jung­frau und kul­mi­nier­te für den Tag; Ju­pi­ter und Ve­nus blick­ten sie freund­lich an, Mer­kur nicht wi­der­wär­tig, Sa­turn und Mars ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig; nur der Mond, der so­eben voll ward, übte die Kraft sei­nes Ge­gen­scheins umso mehr, als zu­gleich sei­ne Pla­ne­ten­stun­de ein­ge­tre­ten war. Er wi­der­setz­te sich da­her mei­ner Ge­burt, die nicht eher er­fol­gen konn­te, als bis die­se Stun­de vor­über­ge­gan­gen.

      Die­se gu­ten Aspek­ten, wel­che mir die Astro­lo­gen in der Fol­ge­zeit sehr hoch an­zu­rech­nen wuss­ten, mö­gen wohl Ur­sa­che an mei­ner Er­hal­tung ge­we­sen sein: denn durch Un­ge­schick­lich­keit der Heb­am­me kam ich für tot auf die Welt, und nur durch viel­fa­che Be­mü­hun­gen brach­te man es da­hin, dass ich das Licht er­blick­te. Die­ser Um­stand, wel­cher die Mei­ni­gen in große Not ver­setzt hat­te, ge­reich­te je­doch mei­nen Mit­bür­gern zum Vor­teil, in­dem mein Groß­va­ter, der Schult­heiß Jo­hann Wolf­gang Tex­tor, da­her An­lass nahm, dass ein Ge­burts­hel­fer an­ge­stellt und der Heb­am­men-Un­ter­richt ein­ge­führt oder er­neu­ert wur­de; wel­ches denn man­chem der Nach­ge­bor­nen mag zu gute ge­kom­men sein.

      Wenn man sich er­in­nern will, was uns in der frühs­ten Zeit der Ju­gend be­geg­net ist, so kommt man oft in den Fall, das­je­ni­ge, was wir von an­de­ren ge­hört, mit dem zu ver­wech­seln, was wir wirk­lich aus eig­ner an­schau­en­der Er­fah­rung be­sit­zen. Ohne also hier­über eine ge­naue Un­ter­su­chung an­zu­stel­len, wel­che oh­ne­hin zu nichts füh­ren kann, bin ich mir be­wusst, dass wir in ei­nem al­ten Hau­se wohn­ten, wel­ches ei­gent­lich aus zwei durch­ge­bro­che­nen Häu­sern be­stand. Eine tur­mar­ti­ge Trep­pe führ­te zu un­zu­sam­men­han­gen­den Zim­mern, und die Un­gleich­heit der Stock­wer­ke war durch Stu­fen aus­ge­gli­chen. Für uns Kin­der, eine jün­ge­re Schwes­ter und mich, war die un­te­re weit­läuf­ti­ge Haus­flur der liebs­te Raum, wel­che ne­ben der Türe ein großes höl­zer­nes Git­ter­werk hat­te, wo­durch man un­mit­tel­bar mit der Stra­ße und der frei­en Luft in Ver­bin­dung kam. Ei­nen sol­chen Vo­gel­bau­er, mit dem vie­le Häu­ser ver­se­hen wa­ren, nann­te man ein Geräms. Die Frau­en sa­ßen dar­in, um zu nä­hen und zu stri­cken; die Kö­chin las ih­ren Salat; die Nach­ba­rin­nen be­spra­chen sich von da­her mit­ein­an­der, und die Stra­ßen ge­wan­nen da­durch in der gu­ten Jahrs­zeit ein süd­li­ches An­se­hen. Man fühl­te sich frei, in­dem man mit dem Öf­fent­li­chen ver­traut war. So ka­men auch durch die­se Gerämse die Kin­der mit den Nach­barn in Ver­bin­dung, und mich ge­wan­nen drei ge­gen­über woh­nen­de Brü­der von Och­sen­stein, hin­ter­las­se­ne Söh­ne des ver­stor­be­nen Schult­hei­ßen, gar lieb und be­schäf­tig­ten und neck­ten sich mit mir auf man­cher­lei Wei­se.

      Die Mei­ni­gen er­zähl­ten gern al­ler­lei Eu­len­spie­ge­lei­en, zu de­nen mich jene sonst erns­ten und ein­sa­men Män­ner an­ge­reizt. Ich füh­re nur einen von die­sen Strei­chen an. Es war eben Topf­markt ge­we­sen, und man hat­te nicht al­lein die Kü­che für die nächs­te Zeit mit sol­chen Wa­ren ver­sorgt, son­dern auch uns Kin­dern der­glei­chen Ge­schirr im klei­nen zu spie­len­der Be­schäf­ti­gung ein­ge­kauft. An ei­nem schö­nen Nach­mit­tag, da al­les ru­hig im Hau­se war, trieb ich im Geräms mit mei­nen Schüs­seln und Töp­fen mein We­sen, und da wei­ter nichts da­bei her­aus­kom­men woll­te, warf ich ein Ge­schirr auf die Stra­ße und freu­te mich, dass es so lus­tig zer­brach. Die von Och­sen­stein, wel­che sa­hen, wie ich mich dar­an er­getz­te, dass ich so gar fröh­lich in die Händ­chen patsch­te, rie­fen: »Noch mehr!« Ich säum­te nicht, so­gleich einen Topf und, auf im­mer fort­wäh­ren­des Ru­fen: »Noch mehr!« nach und nach sämt­li­che Schüs­sel­chen, Tie­gel­chen, Känn­chen ge­gen das Pflas­ter zu schleu­dern. Mei­ne Nach­barn fuh­ren fort, ih­ren Bei­fall zu be­zei­gen, und ich war höch­lich froh, ih­nen Ver­gnü­gen zu ma­chen. Mein Vor­rat aber war auf­ge­zehrt, und sie rie­fen im­mer: »Noch mehr!« Ich eil­te da­her stracks in die Kü­che und hol­te die ir­de­nen Tel­ler, wel­che nun frei­lich im Zer­bre­chen noch ein lus­ti­ge­res Schau­spiel ga­ben; und so lief ich hin und wi­der, brach­te einen Tel­ler nach dem an­de­ren, wie ich sie auf dem Topf­brett der Rei­he nach er­rei­chen konn­te, in glei­ches Ver­der­ben. Nur spä­ter er­schi­en je­mand, zu hin­dern und zu weh­ren. Das Un­glück war ge­sche­hen, und man hat­te für so viel zer­broch­ne Töp­fer­wa­re we­nigs­tens eine lus­ti­ge Ge­schich­te, an der sich be­son­ders die schal­ki­schen Ur­he­ber bis an ihr Le­bens­en­de er­getz­ten.

      Mei­nes Va­ters Mut­ter, bei der wir ei­gent­lich im Hau­se wohn­ten, leb­te in ei­nem großen Zim­mer hin­ten hin­aus, un­mit­tel­bar an der Haus­flur, und wir pfleg­ten un­se­re Spie­le bis an ih­ren Ses­sel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin aus­zu­deh­nen. Ich er­in­ne­re mich ih­rer gleich­sam als ei­nes Geis­tes, als ei­ner schö­nen, ha­gern, im­mer weiß und rein­lich ge­klei­de­ten Frau. Sanft, freund­lich, wohl­wol­lend ist sie mir im Ge­dächt­nis ge­blie­ben.

      Wir hat­ten die Stra­ße, in wel­cher un­ser Haus lag, den Hirsch­gra­ben nen­nen hö­ren; da wir aber we­der Gra­ben noch Hir­sche sa­hen, so woll­ten wir die­sen Aus­druck er­klärt wis­sen. Man er­zähl­te so­dann, un­ser Haus ste­he auf ei­nem Raum, der sonst au­ßer­halb der Stadt ge­le­gen, und da, wo jetzt die Stra­ße sich be­fin­de, sei eh­mals ein Gra­ben ge­we­sen, in wel­chem eine An­zahl Hir­sche un­ter­hal­ten wor­den. Man habe die­se Tie­re hier be­wahrt und ge­nährt, weil nach ei­nem al­ten Her­kom­men der Se­nat alle Jah­re einen Hirsch öf­fent­lich ver­spei­set, den man denn für einen sol­chen Fest­tag hier im Gra­ben im­mer zur Hand ge­habt, wenn auch aus­wärts Fürs­ten und Rit­ter der Stadt ihre Jagd­be­fug­nis ver­küm­mer­ten und stör­ten, oder wohl gar Fein­de die Stadt ein­ge­schlos­sen oder be­la­gert hiel­ten. Dies ge­fiel uns sehr, und wir wünsch­ten, eine sol­che zah­me Wild­bahn wäre auch noch bei un­sern Zei­ten zu se­hen ge­we­sen.

      Die Hin­ter­sei­te des Hau­ses hat­te, be­son­ders aus dem obe­ren Stock, eine sehr an­ge­neh­me Aus­sicht über eine bei­nah un­ab­seh­ba­re Flä­che von Nach­bars­gär­ten, die sich bis an die Stadt­mau­ern ver­brei­te­ten. Lei­der aber war, bei Ver­wand­lung der sonst hier be­find­li­chen Ge­mein­de­plät­ze in Haus­gär­ten, un­ser Haus und noch ei­ni­ge an­de­re, die ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu la­gen, sehr ver­kürzt wor­den, in­dem die Häu­ser vom Ross­markt her weit­läu­fi­ge Hin­ter­ge­bäu­de und große Gär­ten sich zu­eig­ne­ten, wir aber uns durch eine ziem­lich hohe Mau­er uns­res Ho­fes von die­sen so nah ge­le­ge­nen Pa­ra­die­sen aus­ge­schlos­sen sa­hen.

      Im zwei­ten Stock be­fand sich ein Zim­mer, wel­ches man das Gar­ten­zim­mer nann­te, weil man sich da­selbst durch we­ni­ge Ge­wäch­se vor dem Fens­ter den Man­gel ei­nes Gar­tens zu er­set­zen ge­sucht hat­te. Dort war, wie ich her­an­wuchs, mein liebs­ter, zwar nicht trau­ri­ger, aber doch sehn­süch­ti­ger Auf­ent­halt. Über jene Gär­ten hin­aus, über Stadt­mau­ern und Wäl­le sah man in eine schö­ne frucht­ba­re Ebe­ne: es ist die, wel­che sich nach Höchst hin­zieht. Dort lern­te ich Som­mers­zeit ge­wöhn­lich mei­ne Lek­tio­nen, war­te­te die Ge­wit­ter ab und konn­te mich an der un­ter­ge­hen­den Son­ne, ge­gen wel­che die Fens­ter ge­ra­de ge­rich­tet wa­ren, nicht satt ge­nug se­hen. Da ich aber zu glei­cher Zeit die Nach­barn in ih­ren Gär­ten wan­deln

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