Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler

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Identität befürchten mussten. Sie folgerten aus der Sage, dass der im Traum erschienene Gott Abrahams sein Volk ja auch in der Fremde aufgesucht hatte und dass es infolgedessen von alters her keine gottlose und heillose Zeit gibt, selbst im Exil nicht. Israel darf sich also auch in der Diaspora unter den Völkern gesegnet und als Gottes Volk bewahrt wissen. Man kann an diesem Beispiel gut ablesen, dass für die biblischen Überlieferungen nicht die Historizität an sich im Vordergrund steht, sondern eine bestimmte Lesart der Geschichte, die für die eigene Gegenwart von Bedeutung ist. Man erinnert sich an die alten Erzählungen, um sich in der Gegenwart für die Zukunft zu vergewissern und Zuversicht oder Hoffnung zu schöpfen. Ähnlich wie die schon erwähnte Moses-Überlieferung haben die sogenannten Vätersagen (Abraham, Isaak, Jakob) eine in der Erinnerungskultur Israels bis heute zentrale Stellung. Übrigens bis ins Politische hinein, wenn es zum Beispiel um den umstrittenen Anspruch auf das Land geht.

      Kehren wir noch einmal zu der für Israel prägenden Erfahrung des babylonischen Exils zurück. Die Begegnung mit fremder Kultur und einer weit entwickelten Wissenschaft unter den Babyloniern erschloss den jüdischen Theologen neues Wissen über die Entstehung der Welt. Sie rezipierten dieses und verknüpften es mit ihrem überlieferten Gottesbild, um daraus eine universale Perspektive zu formulieren, die ihnen gerade in der Fremde Zuversicht vermittelte: Es gibt keinen Ort, an dem Gott fern ist, weil er die ganze Welt erschaffen und einen Plan mit Israel für die ganze Welt hat. So entwickelten sich aus der Erfahrung des Exils heraus erstmals universalistische Ansätze in der Theologie der antiken Israeliten, die für die folgenden Jahrhunderte bestimmend wurden.

      In der Literaturwerdung des Tanach hat sich das in der Weise niedergeschlagen, dass die Sagen der „Erzväter“ über ihre Begegnungen mit dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ der schon vorhandenen Moses-Überlieferung vorangestellt wurden. Es entstand das Buch Genesis (Schöpfung). An seinem Ende erklärte die Novelle von Josef und seinen Brüdern, wie die Israeliten nach Ägypten gekommen waren. Aber damit nicht genug. Angeregt durch babylonische Schöpfungssagen entstanden die Erzählungen von der Erschaffung der Welt und des Menschen. Ihnen folgten weitere Urgeschichten (Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Sintflut, Turmbau zu Babel), in denen sich der Bund Gottes mit den Menschen als das bewahrende Element zeigt. Diese Ursagen bildeten wiederum die Vorgeschichte der Vätersagen. Durch genealogische Listen wurde die in ihnen erzählte und gedeutete Menschheitsgeschichte mit dem Beginn der Geschichte Abrahams verknüpft, bis es schließlich heißt: „Und Abraham hörte die Stimme Gottes: Geh in das Land, das ich dir zeigen werde.“ – Ein genialer Spannungsbogen, der das Potenzial für eine religiöse Universalgeschichte hatte. Aus ursprünglich vereinzelten Sagen bildeten sich Sagenkränze, die, miteinander verknüpft, schließlich die große Gründungserzählung von der Geschichte Gottes mit seinem Volk tradierten.

      So wie der Tanach literarisch gewissermaßen „nach vorn“ bis in die Urzeit erweitert wurde, so in der Folgezeit auch „nach hinten“ im Anschluss an das Exil, als es für Israel unter den Persern zur Rückkehr und Restitution des Königtums Juda und zum Bau des zweiten Tempels kam. Die Exulanten durften in ihr Land zurückkehren und mit dem Wiederaufbau beginnen. Die Hoffnungen des Exils schienen sich zu erfüllen. Dennoch blieb die Landbrücke zwischen Mittelmeer und Jordan ein Spielball der Mächte. Auch unter den folgenden, wechselnden Besetzungen des Landes durch die Griechen und die Römer stand die Existenz Israels wiederholt auf dem Spiel. In zahlreichen Aufständen und Kriegen gegen die Besatzungsmächte versuchte das Judentum, seine politische und religiöse Identität zu wahren. Und auch diese Ereignisse haben sich, religiös gedeutet, in den Schriften zum Beispiel der Propheten Hesekiel, Esra, Nehemia und Daniel niedergeschlagen, die dem Kanon der bereits im Tanach vereinten antiken Schriften Israels hinzugefügt wurden. Im Bestreben, Religion und Kultur Israels vor dem Untergang bzw. der Assimilation zu bewahren, hatte es zwei Grundströmungen gegeben: eine, die die politische Aufrichtung der alten Größe Israels unter David und Salomo erhoffte, und eine andere, die glaubte, dass sich nach einem letzten Kampf mit den Mächten der Welt die Herrschaft Gottes durchsetzen werde, das Friedensreich am Zion, zu dem die Völker aus Norden und Süden, Osten und Westen herbeipilgern. Der „Messias“ (wörtlich der „Gesalbte“, wie es bei der Inthronisation von Königen üblich war) war für beide Strömungen gleichermaßen eine religiöse wie politische Leitfigur, an denen sich diese Hoffnungen festmachten. Daneben spielte auch die apokalyptische Figur eines weiteren Heilsbringers, des „Menschensohns“, aus den Visionen des Propheten Daniel eine wichtige Rolle und bewegte die Gemüter. Die pharisäische Erneuerungsbewegung folgte der zweiten Strömung. Auch die charismatischen Sammlungsbewegungen um Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth waren dieser Hoffnung auf das anbrechende Reich der Himmel verbunden. Den politischen Widerstand und einen politischen Messianismus lehnten sie ab.

      In den unruhigen Zeiten der römischen Besatzung tauchte zuerst in den Bergen Galiläas, im Norden Israels, eine kleine Schar auf und machte allmählich von sich reden. Es war nicht ungewöhnlich für diese Zeiten, dass charismatische Leitfiguren wandernd durch die Gegend zogen, Menschen um sich versammelten und die große Zeitenwende verhießen. Für diese Anhängerschaft aber, die einem Mann namens Jesus nach Jerusalem gefolgt war, erfüllten sich trotz seines offensichtlichen Scheiterns zentrale Hoffnungen ihres jüdischen Glaubens. Ihre Jesuserinnerung, die sich in mündlichen und schriftlichen Glaubenszeugnissen niederschlug, läutete sozusagen einen neuen Abschnitt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk ein und bildete den Grundstock zu einer Sammlung von Schriften unterschiedler Genres, aus denen später das Neue Testament wurde: Briefe, Spruchsammlungen, Weisheitsschriften, apokalyptische Visionen und schließlich mehr als die heute bekannten vier Evangelien. Diese Schriften entstanden an unterschiedlichen Orten in der Urkirche, zirkulierten in den Gemeinden und wurden, zusammen mit den Überlieferungen des Tanach, im Gottesdienst verlesen. Ihre ursprüngliche Vielfalt wurde später von einem Kanon abgelöst, der Anzahl, Stellung und Umfang der urchristlichen Zeugnisse festlegte. Zahlreiche, als nicht authentisch angesehene Überlieferungen wurden ausgeschlossen, vergessen und erst in jüngerer Zeit wieder aufgefunden (Nag Hammadi in Ägypten). Es war die Geburtsstunde des später sogenannten Neuen Testaments, das sich, anknüpfend an die antiken Schriften Israels, je länger desto mehr zu einer weiteren Gründungssage entwickelte und eine eigenständige, über das Judentum hinausgehende Erinnerungskultur ausbildete.

      Herrschte anfangs noch ein gewisser „Wildwuchs“, so ließ die synchrone Interpretation und Zusammenschau durch die frühchristlichen Theologen ab ca. 150 n. Chr. ein Bild entstehen, das den Eindruck einer von Anfang an gegebenen Einheit des Zeugnisses von Jesus Christus vermittelt. Dabei war alles andere als dies der Fall. Das Neue Testament verkörpert nicht die Einheitlichkeit, sondern die Vielfalt der Deutungen, die in der urchristlichen Bewegung zirkulierten. In ihrer Erinnerung wurde die christliche Glaubenserzählung geboren, nicht ohne engste Verbindung zum jüdischen Tanach, vor allem zu seinen universalistischen Lesarten, aber doch in so großer Freiheit und Eigenständigkeit, dass das Neue Testament sich von Beginn an auch für Gläubige außerhalb Israels öffnete und erschloss. Als hätten die frühen christlichen Theologinnen und Theologen um die „beträchtliche Familienähnlichkeit“ (Wolfgang Stegemann) von Anfang an gewusst, behielt für die christlichen Urgemeinden die alte Meistererzählung des Judentums ihre Gültigkeit. Für die Christen war die Jesusüberlieferung eine Fortschreibung der Schriften Israels.

      Halten wir fest: Die in der Bibel gesammelten Texte als Heilige Schrift zu betrachten, ist bereits Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses und eine theologische Konstruktion. Sie nahm ihren Anfang in dem Versuch der Rabbinen, in den großen Krisen seit dem Exil in Babylon (ca. 500 v. Chr.) und nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) das Judentum neu zu definieren und vor dem Untergang zu bewahren. Abseits des verlorenen Tempels wurden Tora und Tanach zur „portablen Heimat“ (Heinrich Heine) des Judentums. Das junge Christentum hat an diese Meistererzählung in den beiden ersten Jahrhunderten nicht nur angeknüpft, sondern sie theologisch zu überbieten versucht, indem es den Tanach als sogenanntes „Altes Testament“ übernahm, ihm das „Neue Testament“ als Bezeugung der Jesusoffenbarung folgen ließ und diese beiden fortan in einem Buch (Biblia) überlieferte.

      Die Meistererzählung des antiken Israel war also die Voraussetzung der christlichen Deutung der Ereignisse

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