Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler

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Distanzierung der Kirche vom Judentum diese ursprüngliche Verbindung gar nicht mehr gesehen wurde. Erst im Zuge der historisch-kritischen Bibelwissenschaft wurde wiederentdeckt, dass das Urchristentum ursprünglich eine Glaubens- und Erneuerungsbewegung im Kontext des jüdischen Messianismus war, die am Auslegungsprozess der Schriften Israels auf ihre Weise teilnahm. Ihr Begründer war Jude, die ersten Protagonisten sämtlich auch. Allerdings trug diese Bewegung in sich bereits das Potenzial zu einer universalen Interpretation. Sie ging davon aus, dass sich der Gottesbund, wie ansatzweise schon im Tanach, über die Geschichte des jüdischen Volkes hinaus auf alle Völker und die ganze Schöpfung bezieht. Im Zentrum dieses neuen Bundes oder Testaments steht Jesus Christus. Das Neue Testament war also zuerst ein Glaubensbekenntnis, bevor es schließlich die Schriften bezeichnete, in denen die Jesuserinnerung überliefert wird.

      Das rabbinische Judentum ging diesen Weg nicht mit. Einerseits versuchte die rabbinische Theologie, die Identität der jüdischen Gemeinden in der Diaspora durch Abgrenzung zu sichern. Andererseits ergab sich innerhalb des hebräischen Urchristentums ein Grundkonflikt zwischen Traditionalisten und Reformern, der die Ablösung vom Judentum beschleunigte. Hielten die einen an ihren jüdischen Wurzeln fest, wollten sich die anderen davon lösen. Die Traditionalisten im jüdisch geprägten hebräischen Urchristentum gerieten ins Hintertreffen. Sie überlebten noch eine Zeit lang als Seitenarm und verschwanden schließlich von der Bühne der Weltgeschichte. Demgegenüber setzte sich der hellenistisch geprägte christliche Zweig der Reformer durch und grenzte sich gegenüber dem Judentum ab, dem er entwachsen war. So wurde allmählich der Eindruck erweckt, dass das Judentum erst im Christentum zu seiner eigentlichen Gestalt gefunden und sich in ihm endgültig erfüllt habe, was in jenem vor Urzeiten nach Gottes Willen angelegt war. Die damit verbundenen theologischen Schwarz-Weiß-Konzepte von „Verheißung (im Judentum) und Erfüllung (im Christentum)“, „Gesetz (im Judentum) und Evangelium (im Christentum)“ haben über Jahrhunderte den christlichen Antijudaismus bestimmt. Das Zerrbild des angeblich gesetzlichen Pharisäers musste über Jahrhunderte herhalten, um das Judentum gegenüber der Gnadenreligion des Christentums in einem schlechten Lichte erscheinen zu lassen. Erst in heutiger Zeit ist es zu längst überfälligen Korrekturen gekommen. Und man hat in zahlreichen theologischen Darstellungen und kirchlichen Erklärungen vom Antijudaismus Abstand genommen und an die bleibende Erwählung Israels und die Treue Gottes zu seinem Volk erinnert.

      Die Bibel wurde als Heilige Schrift die Gründungsurkunde des christlichen Zeitalters. So bildete sich im Laufe der Jahrhunderte als feste Überzeugung heraus, dass der Kanon biblischer Überlieferungen das vollständige und notwendige Wissen verkörpert, das der Welt zu ihrem Heil, zu ihrer Erlösung und zu ihrer Ordnung dient. Um dieses Wissen zu erschließen und zu bewahren, brauchte es die christliche Schriftgelehrsamkeit. Denn als Schriftreligion war das Christentum auf Schriftkenntnis, Übersetzung und Deutung angewiesen. Philologie, Hermeneutik und Dogmatik wurden als wissenschaftliche Leitdisziplinen an bedeutenden Schulen und Universitäten der Antike und des Mittelalters gelehrt. Die Theologie avancierte zur Metaphysik (zur Lehre über das, was die Physik oder Natur übersteigt) und galt in aristotelischer Tradition bis ins späte Mittelalter als die erste unter den Wissenschaften. In geradezu pyramidaler Hierarchie strukturierte die göttliche Weisheit und Vorsehung, vertreten und gehütet durch die Kirchen, das Corpus Christianum, die christliche Weltordnung. Erst nach dem Siegeszug der Naturwissenschaften in der Neuzeit wurden dieser Anspruch und diese Position infrage gestellt und schließlich relativiert. Fortan galt nicht mehr die biblische Tradition als grundlegende Wahrheit und Maßstab des Lebens, sondern nur noch das über den Weg des wissenschaftlichen Zweifels neu gewonnene empirische Wissen oder das vernunftgeleitete gesellschaftliche Übereinkommen. Durch die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit und die Aufklärung geriet die Metaphysik in Konflikt mit den empirischen Wissenschaften. Es wurde gefragt: Ist die Theologie überhaupt eine Wissenschaft?

      Infolgedessen wurden auch die Heilige Schrift selbst und ihr Wahrheitsanspruch relativiert. Die biblischen Texte wurden ein Forschungsfeld der Religions-, Literatur- und Kulturgeschichte. Wir haben es mit religiöser Sprache zu tun, mit Metaphern, Parabeln, Symbolen, mit Poesie, kleinen und großen Erzählungen, Sagen, Legenden und Novellen. Insofern beruht die Heilige Schrift auf von Menschen erdachten und verfassten Texten. Sie ist religiöse Literatur, eine Bibliothek des Glaubens.

      Auch die Annahme einer indirekten Offenbarung von Gottes Wort im Menschenwort, von Gotteswahrheit in menschlicher Sprache, ist keine historische Tatsache, sondern bereits ein theologisches Konzept: Demnach offenbarte Gott seine Wahrheit gegenüber besonders inspirierten Menschen, die ihre Eingebungen mehr oder weniger wörtlich niederschrieben. Das zu hinterfragen, ohne fürchten zu müssen, der Häresie bezichtigt zu werden, ist eine Frucht der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Hinter diese Freiheit des Denkens führt kein Weg zurück. Ich respektiere, dass diese sogenannte Wort-Gottes-Theologie für viele Christen nach wie vor Bedeutung hat, jedenfalls solange sie daraus nicht biblizistische und fundamentalistische Behauptungen ableiten und für allgemeingültig erklären. Aber mein Glaube braucht diese theologische Konstruktion nicht. Denn ich vertraue darauf, dass wir auf eine nicht auszudenkende Weise mit Gott als Geheimnis des Lebens verbunden sind. In vielen biblischen Zeugnissen (aber gewiss nicht allen) stoße ich auf Glaubens- und Lebenserfahrungen, die mir zum Anstoß und zur Quelle eigenen Glaubens geworden sind. Besonders jene, die den Glauben Jesu von Nazareth bezeugen.

      Zu dieser aufgeklärten, reflexiven Distanz gibt es für mich keine Alternative. Weite Teile des heutigen evangelikalen und pfingstlerischen (pentekostalen) Spektrums, das weiterhin ein konservatives, vormodernes Verständnis der Bibel vertritt, sehen das freilich ganz anders. Sie bestimmen die Entwicklung und Dynamik des Christentums heute besonders in der südlichen Hemisphäre mit und nehmen auch auf die amerikanische Innenpolitik erheblichen Einfluss (Bible Belt). Ansätze dazu gibt es auch in den evangelikalen Strömungen in Deutschland. Schwierig wird es, sobald in diesem Spektrum Wahrheitsansprüche erhoben werden, die die demokratische Meinungsbildung in Kirche und Gesellschaft unterlaufen.

      Glaube oder Religion ganz allgemein können aus guten Gründen nicht wieder Grundlage eines allgemeinverbindlichen Welt- und Menschenbildes werden, wie das bis zum Beginn der Neuzeit der Fall war. Die Grundlage menschlicher Verhältnisse ist heute, nach einem jahrhundertelangen Prozess der Emanzipation, das Recht. Das Recht garantiert die freie Ausübung der Religion, so wie es auch andere Weltanschauungen schützt. Es schützt Gläubige wie Nichtgläubige und gebietet, die anderen heiligen Überlieferungen zu achten und ihnen mit Respekt zu begegnen, solange sie mit dem Recht übereinstimmen und die wissenschaftliche Untersuchung und Kritik nicht ausschließen. Dennoch leben Staat und Recht von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Wie zum Beispiel die Menschenwürde und andere Grundüberzeugungen, die auch biblische Wurzeln haben und ebenso im Koran zu finden sind. Deshalb bleibt es wichtig, dass Juden, Christen und Muslime am Diskurs über zentrale ethische Fragen teilnehmen.

      Die Bibel nicht den modernen Fundamentalisten zu überlassen, bleibt eine Herausforderung. Das kann gelingen, wenn wir sie als eine Bibliothek und Meistererzählung des Glaubens verstehen, als Literatur gewordene Erfahrungen, die zum Anstoß neuer Erfahrungen werden können. Grundwissen über die Bibel zu vermitteln, ist auch eine kulturelle Bildungsaufgabe. Wer die Bibel nicht kennt, dem fehlen schlicht Schlüssel zum Verständnis nicht allein der europäischen Kultur. Die biblischen Symbole prägen Werte und Kultur eines Großteils der Menschheit.

      Als Christen sollten wir respektvoll mit den religiösen Überlieferungen anderer Religionen umgehen. Dazu gehört, dass wir uns ausreichend über sie informieren; noch besser wäre es, sie in ihren Grundzügen zu kennen. In diesem Zusammenhang zählt zu den besonderen Leistungen der modernen Bibelwissenschaft, dass sie den eigenständigen Charakter des jüdischen Tanach wiedererkannt hat und seine christliche Gleichsetzung mit dem Alten Testament kritisch hinterfragt. Die alternativen Redeweisen vom Ersten Testament oder von der Hebräischen Bibel haben hier ihren Ursprung. Deshalb muss man nicht auf die christliche Lesart verzichten. Zu glauben, dass sich in der Geschichte Jesu Christi zentrale Hoffnungen der Propheten Israels bewahrheiten, ist nicht antijudaistisch. Fatal wäre es allerdings, wenn diese Sichtweise mit einer Abwertung der jüdischen Lesart verbunden wäre.

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