Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler
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Das Kreuz ist ein Zeichen auf der Grenze. Den einen ein Ärgernis, den anderen eine Dummheit. Am liebsten würden manche es nicht nur aus allen öffentlichen Räumen verbannen, sondern gleich für immer abhängen. Aber es gibt auch die anderen, für die es ihren eigenen Schmerz ausdrückt. Und ein Hoffnungszeichen ist, dass Jesu letzte Worte im Himmel erhört werden. So wie die von Abermillionen, die unter die Räder kommen. Hoffen, dass ihr Schicksal Gott zu Herzen geht, Gottes Schmerz ihr Leid umhüllt und sie nicht verloren sind. In diesem Sinne glaube ich, dass das, was Jesus am Kreuz geschah, auch für uns geschehen ist.
Die Urkirche
Die meisten seiner Jünger und Jüngerinnen flohen, versteckten sich und leugneten ihre Zugehörigkeit, als sie Zeugen der Verhaftung Jesu wurden. Nur wenige folgten ihm in der Menschenmenge zur Kreuzigung. Umso erstaunlicher ist es, dass sie bald nach seinem Tod ihre Angst überwanden und wieder zusammenfanden. In den Glaubensgeschichten, die sie später darüber erzählen, ist das zentrale Motiv dafür die Begegnung mit dem Auferstandenen, dem lebendigen Christus. Im Glauben, dass Jesus als Messias und Gottes Sohn am Kreuz gestorben und von den Toten auferstanden ist, bildeten sie kleine Nachfolgegemeinschaften. Sowohl in Galiläa, wohin einige zurückkehrten, als auch in Jerusalem entwickelten sie ein kommunitäres Lebensmodell, das schon früh ausstrahlte und Aufmerksamkeit weckte und für das sich andere interessierten, die sich ihnen ebenfalls anschlossen. Aus ihrem Kreis entstand die Urkirche als eine Glaubensbewegung.
Was reizte Menschen damals, sich dieser Bewegung anzuschließen? Ich glaube, die Leute waren fasziniert von dem Gedanken, dass hier zumindest eine prinzipielle Gleichheit und Freiheit aller vorgelebt werden sollte. Wir wissen, dass sich von Anfang an sowohl begüterte, privilegierte als auch arme, bedürftige Menschen in den christlichen Gemeinden sammelten. Selbst Sklaven zählten dazu. Auch wenn die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft de facto fortbestanden, in den Versammlungen der Christen konnten sich Menschen zugehörig und akzeptiert fühlen, befreit vom Druck der Minderwertigkeit. Außerdem herrschte eine rege karitative Aktivität, die im Umfeld der Gemeinden Anerkennung fand. Besonders die antiken Großstädte wie Ephesus, Philippi, Korinth oder Rom waren Schmelztöpfe unterschiedlicher sozialer, ethnischer und religiöser Milieus. Vor diesem Hintergrund brachte es der Apostel Paulus auf den Punkt: Bei uns zählt nicht, ob man Mann oder Frau, Jude oder Grieche, Sklave oder Freier ist. Alle sind eins in Christus (Galaterbrief). Er setzte damit einen zentralen Gedanken Jesu von Nazareth fort, dass es vor Gott keine Vorrangstellung oder Bevorzugung gibt. Eine Vorstellung übrigens, die durch die Jahrhunderte hindurch bis in die aktuellen Debatten über Rassismus und Diversität hinein wirksam ist. Dennoch besteht kein Grund, die frühe Zeit der Christen zu idealisieren. Auch dort gab es schon zu Beginn Konflikte, die zu schlichten waren. Zum Beispiel zwischen denen, die sich volle Picknickkörbe mitbrachten und denen, die mit leerem Magen an den Versammlungen teilnahmen. Heftiger Streit entstand auch im Umgang mit religiösen Traditionen, nachdem sich Paulus aus Tharsus der neuen Glaubensbewegung angeschlossen hatte.
Der Apostel Paulus besuchte die Gemeinde in Jerusalem wenige Jahre später und begegnete bereits einer Art Gemeindeleitung, die sich aus denen zusammensetzte, die schon in der Anhängerschar Jesu eine besondere Rolle gespielt hatten: Petrus, Jakobus und Johannes. Mit ihnen beratschlagt er, wie in Fragen der künftigen Mission unter Nichtjuden zu verfahren sei. In der späteren Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas und mehr noch vom Apostel Paulus selbst wird dieser Kontakt als relativ konfliktreich geschildert. Es gibt eine fundamentale Meinungsverschiedenheit darüber, wie stark sich die Urgemeinde weiterhin an das Judentum binden soll. Dahinter stehen unterschiedliche Milieus. Einerseits die im Lande geborenen hebräischen Christen um Petrus und Jakobus, die an ihrer jüdischen Tradition streng festhalten. Ihnen stehen die hellenistischen Juden gegenüber, die sich nur zeitweise in Jerusalem aufhalten und dort in Kontakt mit der Urgemeinde kommen. Auch die Nichtjuden in der Diaspora, die durch die paulinische Mission das Christentum kennenlernen. Für sie sind Beschneidungs- und Reinheitsgebote nicht verbindlich und keine Voraussetzung für ihren Glauben an Jesus Christus. Als der Konflikt eskaliert, kommt es zur Spaltung zwischen den Traditionalisten und den Liberalen. Letztere wandern nach Antiochia aus (heute Grenzgebiet zwischen Syrien und Türkei). Antiochia wird Ausgangspunkt der paulinischen Mission. Nun besteht erstmals die Notwendigkeit, sich als Religionsgemeinschaft erkennbar zu machen und einen Namen zu finden: „Christen“ (Christianoi), die an Jesus Christus als den Messias (hebräisch) bzw. Christus (griechisch) glauben. Der von der Welt verachtete Mann am Kreuz wurde von Gott auferweckt von den Toten und eingesetzt zum Kyrios (Herrn). Dieses Mysterium erfüllt den Glauben der frühen Christen mehr als alles andere. In den Schriften von Paulus spielen das Leben Jesu, seine Botschaft, sein Weg von Galiläa nach Jerusalem keine Rolle, wohl aber das Geheimnis seiner Erlösung für die Welt: Getauft in seinen Tod und mit ihm auferweckt von den Toten, in der Erwartung seiner baldigen Wiederkehr zum großen Endgericht. Diese Theologie hat zumindest die Christen in Antiochia und die von dort angestoßenen Missionen in Kleinasien, Griechenland und schließlich in Rom maßgeblich bestimmt. Sie verstanden sich als Ekklesia, was so viel bedeutet wie die Sammlung der Herausgerufenen, Ausgesonderten. Schon bald lösten sie sich, teilweise konfliktreich, vom Synagogenverbund, gründeten eigene Hausgemeinden und lebten in der Erwartung der nahen Wiederkehr des Herrn (Parusie). Wir haben hierbei an die Jahrzehnte zwischen Jesu Kreuzigung (um 30) und der Zerstörung Jerusalems (70) zu denken.
Die Zerstörung Jerusalems war auch für die Ekklesia die Katastrophe schlechthin, hatte auch sie dadurch den Zugang zu ihren heiligen Orten und zur Urgemeinde verloren. Man hatte erwartet, dass angesichts dieser Katastrophe der Messias zum Endgericht erscheint. Als dies ausblieb, setzte zunächst eine große Ratlosigkeit ein. Dann wurde aber gerade durch diese Krise eine neue kreative Phase der Erinnerungsarbeit ausgelöst. Plötzlich erwachte erneut das Interesse am Leben Jesu, an seinem Weg, seiner Botschaft, seinem Wirken, seiner Weisheit und seiner Lehre für die Gemeinde der Jüngerinnen und Jünger. Die Autoren des Markusevangeliums waren die ersten, die den großen Bogen spannten, indem sie die ausführliche tage- und zuletzt stundenweise Erzählung der Passion und Auferstehung um das ihnen verfügbare Wissen von der Vorgeschichte Jesu aus Nazareth erweiterten. Sie konnten auf die Johannes-der-Täufer-Überlieferung zurückgreifen und auf Erzählungen aus der Zeit in Galiläa. Sie fanden Sammlungen seiner Gleichnisse vor und lieferten die Deutung gleich mit, auch Heilungs- und Wunderüberlieferungen lagen ihnen vor. Damit schufen sie eine „Biografie“, eine narrative Theologie vom Sohn Gottes und seinem Evangelium. Ein neues literarisches Genre war geboren. Es lief zwar immer noch auf Kreuz und Auferstehung zu. Aber dieses Bekenntnis wurde nun eingebettet in die Geschichte mit Jesus und seinem Evangelium, seiner Lehre und seinen Taten. Daran sollte sich die Ekklesia fortan orientieren, so lange, wie es dauern würde bis zu seiner Wiederkunft.
An anderen Orten und in anderen Gemeinden wurde diese literarische Erinnerungsarbeit in ähnlicher Weise, aber mit den eigenen Möglichkeiten fortgesetzt. Weitere, den Markus-Theologen und Theologinnen nicht verfügbare, Quellen wurden herangezogen, zum Beispiel eine Sammlung von Aussprüchen Jesu, weitere Gleichnisse, Geburts- und Kindheitsgeschichten, die die wunderhafte Geburt des Gottessohnes belegen sollten, wurden ein- und hinzugefügt und mit eigenen theologischen Akzenten versehen. So entstanden die Evangelien nach Matthäus und Lukas und, in einer ganz eigenständigen Form, das Evangelium nach Johannes. Zunächst waren es einzelne Schriften, die ganz für sich bestanden, gewissermaßen als regionale Traditionen. Aber auch sie fanden allmählich Eingang in neue Sammlungen, bestehend aus Evangelien und Apostelgeschichten, Briefen und einer Apokalypse. Jesu Weg nach Jerusalem wurde zum Vorbild für ihren Weg in seiner Nachfolge. Als solche „Role-Models“ sind die Evangelien entworfen, wurden und werden sie gelesen, als Jesuserinnerung, in der eigener Glaube Gestalt gewinnt.