Fokus SEIDENPLANTAGE. Paul Fenzl
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Als der Köstlbacher mit seinem Kollegen Baldauf auf Höhe des Friedhofs am Dreifaltigkeitsberg links abbog, sahen sie schon weiter oben vor der SEIDENPLANTAGE zwei Streifenfahrzeuge mit laufendem Blaulicht stehen. Da es immer noch nebelverhangen war, erzeugten die Blaulichter eine gespenstische Atmosphäre. Ein Beamter wollte gerade ansetzen, den dunklen Audi zu stoppen, – sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten hatte man die Zufahrten zur SEIDENPLANTAGE abgesperrt – gab den Weg aber schnell frei, als er den Köstlbacher erkannte. »Sie werden erwartet!«, nickte er den beiden Kriminalern zu.
Es ist nicht etwa so, dass in der viertgrößten Stadt Bayerns jeder Polizist den Polizeihauptkommissar Edmund Köstlbacher persönlich kennt. Seiner inzwischen unbestritten regionalen Berühmtheit, die er nicht zuletzt der Mittelbayerischen Zeitung, dem lokalen Fernsehsender TVA und hin und wieder sogar dem BR zu verdanken hat, ist es jedoch geschuldet, dass zumindest innerhalb der Polizei diesem Hauptkommissar ein Ruf voraneilt, gemäß dem ihm jeder Kollege respektvoll begegnet.
Fast zeitgleich mit dem Köstlbacher kam auch der Leiter der Spurensicherung Kommissar Bernd Jung in Begleitung seines Teams am Tatort an. Der Köstlbacher nickte ihm zu und sagte irgendetwas, das wegen seines Mundund Gesichtsschutzes aber kaum zu verstehen war. Ein großer Nachteil dieser Maskenpflicht. Wer da nicht laut und deutlich artikuliert, der kann seinen Mund gleich zulassen. In dem Falle war das allerdings weiter nicht von Bedeutung, weil das Begrüßungsritual an einem Leichenfundort immer das gleiche war.
Einer der Beamten, die schon vor Ort waren, deutete zur Böschung am Rande des Parkstreifens gegenüber der SEIDENPLANTAGE:
»Eine weibliche Leiche! Sieht nach einer Joggerin aus! Ein gewisser Herr Müller, beziehungsweise sein Hund, hat sie beim morgendlichen Gassi gehen gefunden.«
Der Köstlbacher, sein Kollege Baldauf und das Spusi-Team nahmen die Leiche in Augenschein. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei eine Joggerin gestürzt und auf dem Bauch liegend nicht mehr hochgekommen. Ihr Gesicht, von dem nur eine Hälfte zu sehen war, drückte keine Schmerzen aus. Eher Überraschung. Die Augen, beziehungsweise das Auge, das zu sehen war, stand weit offen. Dass sie von einem Auto angefahren worden war, konnte man weitgehendst ausschließen. Dazu lag sie zu weit von der Fahrbahn entfernt. Ein blutiges Rinnsal hatte sich von ihr weg auf dem abschüssigen Parkstreifen gebildet, das nach kaum mehr als einem Meter in einem Schlagloch versickerte.
Voreilige Mutmaßungen sind in so einer Situation wenig hilfreich. Das war dem Köstlbacher klar. Darum überließ er erst einmal dem Jung mit seiner Mannschaft das Feld und drehte sich suchend nach dem Herrn Müller um, der die Tote gefunden hatte. Der Köstlbacher musste nicht erst nachfragen. Wegen der vorbildlichen Absperrung stand nur eine einzige zivile Person in der Nähe. Und da neben dieser Person ein Hund Platz genommen hatte, konnte es sich nur um Herrn Müller handeln.
»Herr Müller? Köstlbacher. Kripo Regensburg. Sie haben die Tote gefunden?« Auf formelle Begrüßungsworte verzichtete der Kommissar. Nicht weil er bewusst unfreundlich sein wollte. Aber wer den Köstlbacher kennt, der weiß, dass überschwängliche Freundlichkeit nicht zu seinen Markenzeichen gehört, auch wenn keine bewusst negative Absicht dahintersteht.
Herr Müller nickte. »Genau genommen hat Gino sie gefunden. Er ist schon 14 Jahre alt und fast blind, aber auf seine Nase kann er sich noch vollends verlassen. Ein typischer ›Nova Scotia Duck Tolling Retriever‹ eben!« Stolz leuchteten bei diesen Worten Herrn Müllers Augen, während seine Hand den Kopf des Hundes tätschelte.
»Das wird im Protokoll vermerkt. Aber reden werde ich trotzdem mit Ihnen müssen. Einen Hund kann ich schlecht befragen«, scherzte der Köstlbacher. Ein seltenes Lächeln umspielte dabei seine Lippen. Wegen der Maske aber nicht sichtbar. »Haben Sie, bevor Ihr Hund auf die Tote aufmerksam geworden ist, irgendwelche Beobachtungen gemacht? Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Hier oben ist überwiegend nur Anliegerverkehr. Nicht so, wie weiter unten, wo viele aus Lappersdorf durchfahren. Heute habe ich kein einziges Auto gesehen. Und zu Fuß war auch niemand unterwegs. Außer der Toten. Die kam hier regelmäßig vorbei. Wäre ich nur etwas früher dran gewesen. Vielleicht würde sie dann noch leben.«
»Sie kennen die Tote?«, fragte der Köstlbacher erstaunt und sah sich zum ersten Mal den Herrn Müller genauer an. Großgewachsen, schlank, sportlich, die langen, gewellten, graumelierten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, Vollbart. Eine im Alltag kaum zu übersehende Erscheinung.
Ein verschmitztes Lächeln umspielte Herrn Müllers Lippen. Da er keine Maske trug, entging es dem Köstlbacher nicht.
»Nicht jede hübsche Blondine, die hier vorbeiläuft, kenne ich. Aber wenn Sie unter ›kennen‹ verstehen, dass ich sie schon öfter gesehen habe, dann ja. Wie gesagt, sie kommt, besser gesagt kam hier regelmäßig vorbei. Mehr oder minder täglich. Da hin und wieder meine Frau mit Gino Gassi geht, sehe ich sie nicht jeden Tag. Gesprochen habe ich allerdings noch nie mit ihr, wenn man von einem beiläufigen ›Hallo!‹ einmal absieht.«
»Hat vielleicht Ihre Frau …?«, fragte der Köstlbacher.
»Ob sie schon mit ihr geredet hat? Nicht dass ich wüsste. Falls doch, dann haben wir jedenfalls nie miteinander darüber gesprochen.«
»Und Sie und Ihre Frau wohnen …?«, fragte der Köstlbacher.
»Dort im Nebenhaus der SEIDENPLANTAGE. Aber das hatte ich Ihrem Kollegen bereits gesagt.«
Der Köstlbacher äußerte sich dazu nicht. Die Personalien aufzunehmen geschieht natürlich immer bei der allerersten Kontaktaufnahme. Aber das entsprechende Protokoll würde ihm erst zurück in seinem Büro vorliegen. Herr Müller schien sich so etwas schon gedacht zu haben, denn er holte nun doch von sich aus etwas weiter aus:
»Meine Frau heißt Petra Herrmann. Sie betreibt gemeinsam mit unserer Tochter Stephanie das ›Dayspa‹ im Haupthaus der SEIDENPLANTAGE. Ich betone bewusst den Familiennamen Herrmann meiner Frau und meiner Tochter, da ich, wie Sie ja wissen, Müller heiße.«
Der Köstlbacher tat, als ob er diesen Hinweis überhört hätte. Dabei war ihm durchaus klar, wie sehr unterschiedliche Familiennamen in der Vergangenheit schon die Ermittlungsarbeit erschwert hatten. Mit dem Begriff ›Dayspa‹ konnte er nichts anfangen. Aber das musste er diesem Müller schließlich nicht gleich auf die Nase binden.
»Kann ich mit Ihrer Frau sprechen?«, fragte er.
»Sie dürfte inzwischen schon drüben im ›Dayspa‹ sein. Aber das wäre wohl kaum ein Problem.«
In dem Moment winkte dem Köstlbacher der Kommissar Jung zu. Das konnte nur eines bedeuten: Er war jetzt soweit. Zeit für eine erste Einschätzung aufgrund der gesichteten Faktenlage.
»Ich melde mich später!«, beendete der Köstlbacher abrupt sein Gespräch mit Herrn Müller und ging zum Leichenfundort hinüber. Auf seinen fragenden Blick hin meinte der Jung:
»Bei der Toten handelt es sich um eine junge Frau. Joggerin. Vermutlich um die 25 Jahre alt. Gestorben ist sie an einer Stichwunde. Ich würde sagen, direkt ins Herz. Aber das muss die Gerichtsmedizin erst bestätigen. Todeszeitpunkt 6:30 Uhr heute Morgen plus/minus 30 Minuten. Eine Tatwaffe haben wir nicht gefunden.«
»Irgendwelche Spuren vom Täter? Gab es einen Kampf?«
»Letztendlich kann auch das erst in der Gerichtsmedizin abgeklärt werden. Meine Einschätzung ist negativ. Kein Kampf! Was Täterspuren betrifft,