Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend

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Fremde und Fremdsein in der Antike - Holger Sonnabend

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aber auch positiven Folgen. So kommt er in das Land der Phaiaken. Sie leben glücklich auf einer einsamen Insel. Odysseus strandet dort als Schiffbrüchiger. Ohne, dass er sich zu erkennen gibt, wird er vom König und dessen Tochter freundlich empfangen. Die Bevölkerung aber ist misstrauisch, sie meidet den Fremden. Die Erklärung liefert die Göttin Athene. Sie gibt Odysseus den Rat, sich von den Menschen fernzuhalten (7,31 f.): »Blicke niemanden an, noch frage jemanden. Denn sie dulden die Fremden nicht gern.«

      Das Volk hat keine Erfahrung mit Fremden. Jeder, der nicht zur Gemeinschaft gehört, wird ausgegrenzt. Dahinter steht die für archaische Gesellschaften typische Haltung, im Fremden den Träger und Verbreiter unheimlicher, unbekannter Kräfte zu sehen. So kapselt man sich lieber ab. Der König und seine Tochter sind Repräsentanten einer schon etwas weiteren Entwicklungsstufe. Sie pflegen die Tugend der Gastfreundschaft, jedoch nicht aus humanitären Motiven heraus, sondern, weil sie die Vorstellung haben, durch freundliche Aufnahme diese negativen Kräfte des Fremden zu bändigen. Bezeichnend für dieses Stadium im Umgang mit Fremden ist die Tatsache, dass die Bezeichnung für »Fremder« und »Gast« identisch ist. Für beide verwenden die Griechen den Begriff xenos. Davon ist das heute allgegenwärtige Wort Xenophobie abgeleitet, meist unpräzise als »Fremdenhass« übersetzt. Genauer ist die Übersetzung »Fremdenangst«.

      Die therapeutische Funktion der Gastfreundschaft bei der Überwindung von Ressentiments gegenüber Fremden illustriert eine weitere Episode in der Odyssee. Sie gibt zudem Einblick in die ritualisierte Form der Kontaktaufnahme zu dem Fremden. Als Odysseus endlich in die Heimat Ithaka zurückkehrt, verkleidet er sich zur Vorsicht als Bettler. Nicht einmal sein alter Sauhirt Eumaios erkennt ihn in dieser Aufmachung. Doch er bittet ihn in seine bescheidene Hütte, versorgt ihn mit Brot und Wein. Odysseus will sich bedanken, doch der Sauhirt will keinen Dank (14,56–58): »Es wäre ein Unrecht, einen Fremden zu missachten, auch wenn er noch geringer wäre als du: Sie alle kommen von Zeus.«

      Ein neuer Gedanke: Der Fremde erhält eine Schutzgarantie, denn er steht unter göttlichem Schutz. Kein Geringerer als der oberste Gott Zeus persönlich ist jene Instanz, die diesen Schutz gewährleistet. In dieser Eigenschaft wird er von den Griechen Zeus Xenios genannt. Wer einen Fremden nicht freundlich aufnimmt, achtet den Gott nicht und begeht einen religiösen Frevel. Nicht umsonst wählt Homer für diese Szene einen Sauhirten und einen (verkleideten) Bettler. Die Pflicht zur gastlichen Aufnahme gilt auch gegenüber Menschen, die in der sozialen Skala nicht ganz oben rangieren. Und der Sauhirt Eumaios gehört zwar nicht zu den Repräsentanten der Oberschicht, hält sich aber selbstverständlich an die Regeln der Gastfreundschaft. Sie sind allgemein verbindlich.

      Dass es auch ganz anders laufen kann, zeigt eine dritte Episode aus der Odyssee. Odysseus landet an einer Küste, die von den riesenhaften, grobschlächtigen Zyklopen bewohnt wird. Einer von diesen einäugigen, unzivilisierten Gestalten ist Polyphem, ein Sohn des Gottes Poseidon. Odysseus kommt mit seinen Begleitern in die Höhle des Zyklopen, und dieser verstößt nun eklatant gegen alle Regeln des göttlich garantierten Gastrechts. Der Riese weiß nicht, was sich gehört, er ist unfreundlich und sorgt nicht für seine Gäste. Als er grob fragt, mit wem er es eigentlich zu tun hat, erteilt ihm der erboste Odysseus eine verbale Lektion in Sachen Gastfreundschaft gegenüber Fremden (9,269–271): »Habe Respekt vor den Göttern! Wir Armen flehen dich um Hilfe an. Ist doch Zeus der Rächer für Schutzflehende und Fremde – Zeus Xenios, der die Fremden, die man achten muss, begleitet.«

      Den Riesen beeindrucken diese Worte nicht. Im Gegenteil: Er verschließt die Höhle mit einem Felsen und frisst, bevor er sich zur Ruhe legt, zwei der Gefährten des Odysseus. Spätestens jetzt ist diesem klar, dass der Zyklop kein primärer Verfechter der hehren Prinzipien der Gastfreundschaft ist. Dank seines nie versiegenden Listenreichtums gelingt es ihm, sich und seine Gefährten aus der Gefahr zu befreien. Der einäugige Zyklop wird geblendet und bleibt in ohnmächtiger Wut zurück. Die Lehre, die von der Polyphem-Geschichte ausgehen soll: So ergeht es dem Ungeheuer (und wer so handelt, kann eigentlich nur ein Ungeheuer sein), weil es das heilige Gesetz der Gastfreundschaft verletzt.

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      Die Blendung des Polyphem durch Odysseus und seine Gefährten, schwarzfigurige Malerei auf einer Schale aus Kyrene, 6. Jh. v. Chr.

      Ein anderes Gesetz gibt es in dieser frühen Phase der griechischen Geschichte noch nicht. Es gibt keine Rechtssätze, die den Umgang mit Fremden regeln. So muss der Gott Zeus einspringen, in dessen Obhut sich die Fremden begeben und dabei hoffen, dass die Menschen, denen sie in der Fremde begegnen, sich diesem göttlichen Gesetz ebenfalls verpflichtet fühlen.

       2. Fremde willkommen? Griechen unterwegs

      Homers Odysseus repräsentiert mit seinen fiktiven (Irr-)Fahrten über das Meer die historischen Fahrten, die 200 Jahre lang, zwischen 750 und 550 v. Chr., Griechen aus dem Mutterland zu fremden Gestaden führten. Man hat sich angewöhnt, diese massenhafte Migration als »Große Griechische Kolonisation« zu bezeichnen. Dieser Begriff ist insofern missverständlich, als die Wanderungsbewegungen der Griechen nichts mit Kolonialismus im modernen Sinn zu tun hatten. Die Griechen kamen nicht, um zu erobern und zu unterwerfen, sondern um eine neue Heimat zu finden.

      Die Gründe, aus denen so viele Griechen die gewohnte Umgebung verließen und die Beschwernisse einer Reise, die häufig ins Ungewisse führte, auf sich nahmen, waren vielfältig. Eine Zunahme der Geburten und damit verbundene Ernährungsengpässe sowie Landnot mögen in einzelnen Fällen eine Rolle gespielt haben, waren als Motive zur Auswanderung jedoch nicht so gravierend, wie man früher angenommen hat. Wichtiger waren wirtschaftliche und handelspolitische Gründe. Die Migranten erhofften sich in der Fremde eine Verbesserung ihrer Lebenssituation und spekulierten auch auf die reichen Märkte im Mittelmeerraum und im Schwarzmeergebiet. Unter ihnen befanden sich auch reine Abenteurer, die, auf welche Weise auch immer, ihr Glück in der Fremde suchten.

      Schließlich verließen viele ihre Heimat wegen politischer und sozialer Unruhen. Griechenland bestand damals aus vielen, Poleis genannten Stadtstaaten. Die Polis war die zentrale politische Organisationseinheit – ein Personalverband mit einem urbanen Zentrum und einem agrarischen Umland, politisch autonom und frei. Konflikte innerhalb des regierenden Adels oder zwischen Armen und Reichen führten zu Destabilisierung der Verhältnisse. Die Sieger blieben, die Verlierer gingen. Sie schlossen sich wie diejenigen, die wirtschaftliche Motive hatten, einer der vielen Auswanderergruppen an, die sich in dieser Zeit auf den Weg machten. Um einen zuvor bestimmten, aus der Adelsschicht stammenden Anführer scharten sich meist junge Männer, 100 bis 200 an der Zahl, die gemeinsam ein oder mehrere Schiffe charterten und in See stachen.

      Die Reise gestaltete sich nicht als eine reine Fahrt ins Blaue. Die Kapitäne wussten, wohin sie wollten. Dafür sorgte die zentrale Auskunftsinstanz in Delphi, wo eine Pythia genannte Priesterin als orakelndes Sprachrohr des Gottes Apollon den Migranten Hinweise auf geeignete Zielorte gab. Wie üblich, geschah dies in einer eher nebulösen, zweideutigen Formulierung, die im Falle eines Scheiterns des Unternehmens dem Orakel die Möglichkeit zu der Versicherung gab, die Pythia sei falsch verstanden worden.

      Das göttliche Votum war nicht nur deswegen wichtig, weil sich die Auswanderer den Segen für ihre Unternehmungen verschaffen wollten. Es war zugleich ein Argument in den Zielgebieten. Denn die Plätze, die die Neuankömmlinge für ihre neue Heimat aussuchten, waren nicht immer frei. Dort, wo es gute Häfen, fruchtbare Böden und eine ausreichende Wasserversorgung gab, waren sie häufig schon besetzt. Die Einheimischen waren daher nicht nur begeistert über den Zuzug von Fremden, sondern sahen in ihnen auch Konkurrenten. Um Widerstände zu beseitigen, konnte der Verweis auf göttlichen Ratschluss hilfreich sein. Und dazu verfügte man über die Waffe des Mythos. Mit ihm konnten die Griechen alles erklären. Eine Allzweckwaffe war der umtriebige Heros Herakles, der viel unterwegs gewesen war und von dem die Griechen behaupteten, er habe das Land, um

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