Gornerschlucht. Urs W. Käser
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Überhaupt war die Atmosphäre im Hotel sehr familiär und gastfreundlich, so dass die allermeisten Gäste schon bald zu Stammgästen wurden und das Hotel auch fleissig weiterempfahlen. Das Haus war in traditionellem Walliser Stil gebaut, das Erdgeschoss gemauert und alle höheren Stockwerke aus Holz. Jedes Zimmer hatte einen mit Geranienkästen geschmückten Balkon. Von weitem wirkte deshalb die Fassade des Hauses wie ein einziges rotes Blütenmeer. Auch die gute Lage des Hotels trug zum Wohlbefinden bei. Es lag am Hang, etwas oberhalb des Dorfes, und wenn man vom Zimmer auf den Balkon hinaustrat, überblickte man den ganzen Talkessel von Zermatt mit den umliegenden Berghängen und dem majestätischen Matterhorn als Krönung.
Barbara und Bruno Fuchs wählten für ihr Abendessen jeden Tag ein anderes der unzähligen Restaurants im Dorf aus. Heute hatten sie Lust auf ein original Walliser Raclette und gingen in die in der Bahnhofstrasse gelegene Walliserstube. Schon beim Eintreten schlug ihnen der Duft von geschmolzenem Käse entgegen. Eines war klar: Hier etwas anderes als Fondue oder Raclette essen zu wollen, wäre keine gute Idee gewesen! Bruno und Barbara bekamen einen hübschen Zweiertisch am Fenster und bestellten die traditionelle Vorspeise, eine Auswahl an Walliser Trockenfleisch mit Roggenbrot und dazu eine Flasche einheimischen Rotwein. Auch zum anschliessenden Raclette tranken sie, entgegen der Tradition, lieber roten als weissen Wein. Das Raclette selbst hingegen wurde ganz nach alter Sitte zubereitet. Im offenen Kamin prasselte ein Holzfeuer, und davor standen vier metallene Ständer, auf denen je ein halber Käselaib, jeder mehrere Kilo schwer, so befestigt war, dass die Schnittfläche des Käses sich dem Feuer zuwandte. Sobald die Schnittfläche durch die Hitze genügend weich geworden war, wurde die oberste Schicht Käse mit einem langen Messer direkt auf einen Teller abgeschabt. Neben den geschmolzenen Käse wurden zwei kleine Schalenkartoffeln und eine Salzgurke platziert, und der Teller dem Gast so als Portion Raclette serviert. Die meisten Gäste würzten dann ihren Käse noch mit Pfeffer aus der bereitstehenden Mühle.
Je nach Restaurant wurde entweder jede Portion separat verrechnet, oder man konnte Raclette à discrétion bestellen und für einen fixen Preis essen, soviel man wollte. Bruno hatte jedoch mit dieser Variante im Vorjahr eine schlechte Erfahrung gemacht, als er einmal, nach übermässigem Essen, eine beinahe schlaflose Nacht verbrachte. Seither beschränkte er sich jeweils auf zwei Portionen Raclette und gönnte sich dafür eine Vorspeise und einen kleinen Nachtisch. Heute bestellte Bruno zum Dessert eine Kugel Schokoladeneis mit einem Tupfer Schlagsahne, während Barbara einen Fruchtsalat wählte.
Als danach der Kaffee serviert wurde, schaute Barbara auf ihre Uhr. »Oh, schon neun vorbei. Ich bin ja gespannt auf das beleuchtete Matterhorn.«
Bruno schaute auf. »Ach ja, richtig, heute ist ja das grosse Jubiläum! Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, mit welch einfacher Ausrüstung die Bergsteiger vor 150 Jahren diesen schwierigen Gipfel bezwungen haben. Schuhe mit genagelten Sohlen, dazu Hosen, Jacke, Handschuhe und Mütze, alles aus grober Wolle. Dann ein schweres Hanfseil zur Sicherung und ein Lederrucksack für die Verpflegung, das war alles, was sie hatten. Und natürlich auch keine Hütte, um auf halber Höhe zu übernachten, wie es heutzutage ganz selbstverständlich ist. Nein, die Bergsteiger mussten sich irgendwo, wohl auf über 3000 Metern Höhe, auf den steinigen Boden legen, sich behelfsmässig mit allen mitgebrachten Kleidern zudecken und so den nächsten Morgen abwarten.«
»Dafür hatten sie jede Menge Wagemut, Selbstvertrauen und Gottvertrauen«, ergänzte Barbara lächelnd, während Bruno seine Geldbörse hervorholte, um die Rechnung zu begleichen.
Als sie das Restaurant verliessen, war es fast ganz dunkel geworden. Auf dem Rückweg zum Hotel blieben sie an einer Stelle stehen, die von der Strassenbeleuchtung nur wenig erhellt wurde und von der aus man freie Sicht auf das Matterhorn hatte.
»Oh, wie wunderschön, das war eine tolle Idee vom Zermatter Bergführerverein«, schwärmte Barbara.
»Ja, richtig romantisch«, stimmte Bruno zu und legte seiner Frau einen Arm um die Taille.
Am Hörnligrat, der Aufstiegsroute der Erstbesteiger des Matterhorns, hatten die Zermatter Bergführer eine Lichterkette installiert, die bis zum Gipfel reichte. Diese Lichter gingen jedoch nicht alle gleichzeitig an. Zunächst war nur ein einzelnes Licht bei der Hörnlihütte, am heutigen Ausgangspunkt der Matterhornbesteigung, sichtbar. Einige Sekunden später ging ein zweites Licht etwas weiter oben an, etwas später das dritte, dann das vierte und so fort. Auf diese Weise zeichneten die Lichter, sozusagen im Zeitraffer, Stück für Stück die ganze Aufstiegsroute am Hörnligrat bis zum Gipfel nach. Es sah absolut märchenhaft aus: Die schwarze Kontur des Matterhorns vor dem etwas helleren Nachthimmel und in deren Mitte die glitzernde Lichterkette. Mehrere Minuten blieben Barbara und Bruno andächtig stehen, bevor sie langsam zurück zum Hotel schlenderten.
Mittwoch, 15. Juli 2015
»So, hat Ihnen unser Frühstücksbuffet geschmeckt?«, fragte Patrizia Werlen die beiden, als sie an die Rezeption traten.
»Ja, was soll ich jetzt sagen«, erwiderte Claudia Vontobel mit matter Stimme, »mein Mann hat es in vollen Zügen geniessen können. Aber ich selber habe sehr schlecht geschlafen und fühle mich nicht wohl. Deshalb konnte ich nur eine Tasse Tee zu mir nehmen.«
»Oh, das tut mir wirklich sehr leid. Wahrscheinlich haben Sie die ungewohnte Höhe von mehr als 3000 Metern über Meer schlecht ertragen, das kommt leider öfter vor.«
Die Hotelassistentin griff unter die Theke, zog ein hübsch verpacktes Geschenkpaket hervor und überreichte es ihrem Gast. »Hier, ein kleines Trostpflästerchen für Ihr Pech.«
»Oh, danke, das ist aber ausserordentlich nett!«, erwiderte Claudia Vontobel.
»Was haben Sie denn nun vor? Möchten Sie sich noch ein wenig hier im Hotel erholen?«
Claudia Vontobel überlegte einen Moment. »Nein, ich denke, es ist besser, ich fahre so schnell wie möglich wieder nach Zermatt hinunter. Mein Mann jedoch wird zu Fuss ins Tal absteigen.«
Patrizia Werlen drückte beiden die Hand. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und weiterhin eine schönen Aufenthalt in Zermatt.«
Zehn Minuten später sah Patrizia Werlen durch das Fenster hindurch, wie sich die Vontobels vor dem Haus mit einem langen, innigen Kuss voneinander verabschiedeten.
Claudia stieg in den hintersten Wagen der weltberühmten roten Zahnradbahn. Jetzt, um halb zehn, fuhren nur einige wenige Fahrgäste ins Tal hinunter. Claudia entspannte sich zusehends und freute sich darüber, das wunderschöne Panorama auf die vergletscherten Viertausender, das die Fahrt bot, für einmal ohne das sonst übliche, hektische Lärmen der japanischen und amerikanischen Touristen geniessen zu können. Kurz vor halb elf erreichte Claudia das Hotel Steinbock.
An der Rezeption stand Monika Maier und machte grosse Augen. »Was, schon zurück, Frau Vontobel? Und allein? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur die Höhe schlecht ertragen, konnte kaum schlafen und bin deshalb gleich wieder ins Tal gefahren. Mein Mann steigt zu Fuss ab und wird im Laufe des Nachmittags eintreffen. Ich werde mich jetzt gemütlich mit einem Roman im Wintergarten installieren und hoffe, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen. Bringen Sie mir bitte einen Kamillentee.«
»Gerne! Und ich wünsche Ihnen baldige Besserung.«
Monika Maier gab die Bestellung telefonisch in die Küche durch, während Claudia in die Hotelbibliothek ging, um sich ein spannendes Buch auszusuchen.