Mosers Ende. Urs W. Käser

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Mosers Ende - Urs W. Käser страница 3

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Mosers Ende - Urs W. Käser

Скачать книгу

Neugier ist definitiv geweckt!

      »Herr Wolf?«

      »Oh«, schrecke ich auf, »Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht kommen hören. Sie sind doch, hm, Maria?« Maria Manzoni lächelt.

      »Genau, Herr Wolf, Sie haben ein gutes Gedächtnis. Hier, bitte, Ihre Suppe.«

      »Vielen Dank, Maria. Und ich nehme dann, wie immer, einen Dreier Rioja zum Essen.« Eine Weile lang vertiefe ich mich in die sämige, wunderbar gewürzte Tomatensuppe und nippe ab und zu an meinem Wein. Als Maria mit dem Hauptgang kommt – Kalbskotelette, Kartoffelpüree und grünen Bohnen – frage ich sie diskret nach dem grossen Tisch. Sie beugt sich etwas zu mir herunter und flüstert: »Das ist die grosse Familie Moser aus Meiringen. Alle vier Geschwister sind hier, zusammen mit den Frauen und Kindern. Und sie haben zusammen ein grosses Problem…« Ich nicke dankend und verzichte darauf, sie weiter auszufragen. Allein an meinem Tisch sitzend, habe ich Musse, die zehn Menschen, ihre Stimme, Mimik und Gestik ausgiebig zu studieren. Von ihren Gesprächen kann ich einen Teil, wenn auch längst nicht alles, verstehen. Nachdem Maria den Nachtisch – Vanillecreme mit Himbeeren – abgeräumt hat, bilde ich mir ein, die Rollen und Charaktere der Mosers zuordnen zu können und zu wissen, wer wie gut auf wen zu sprechen ist.

      Da ist ein alleinstehender Mann um die fünfzig namens Samuel. Er könnte der älteste in der Geschwisterreihe sein, ist schlecht gelaunt, erscheint mir ehrgeizig, aber irgendwie unzufrieden mit seinem Leben. Dann ein Ehepaar mit zwei fast erwachsenen Söhnen, Luca und Remo. Der Vater, Michael, spielt ein wenig den Lebemann, stellt sich in den Mittelpunkt, scherzt herum. Ein Jurist oder ein Arzt? Die Mutter, Susanna, wirkt eher abwesend, träumerisch, beteiligt sich nur wenig am Gespräch. Wer von beiden ist wohl den Mosers angeheiratet? Ich kann es vom Aussehen her nicht entscheiden. Sodann ein zweites Ehepaar, Linda und Matthias, mit einer halbwüchsigen Tochter namens Elena. Ein sehr seltsames Paar ist das, man würde kaum denken, dass sie zusammengehören. Linda, stark geschminkt, ist offen, fröhlich, spricht unbefangen mit allen am Tisch. Matthias hingegen ist wortkarg, mürrisch, kommt mir wie eine Zielscheibe vor, so als würde er ständig angegriffen und müsse sich rechtfertigen und verteidigen. Worum es dabei geht, kann ich leider nicht verstehen. Matthias gleicht äusserlich Samuel, dürfte also sein Bruder sein.

      Da geschieht etwas Unerwartetes. Das dritte, vermutlich jüngste und kinderlose Paar am Tisch steht auf, verlässt den Saal und erscheint kurz darauf wieder. Beide tragen eine kleine Handharmonika, ein sogenanntes Schwyzerörgeli, in den Händen. Gleichzeitig kommt von vorne Hotelchef Daniel Dietrich, einen Kontrabass schleppend, in den Saal und verkündet: »Verehrte Gäste, ich darf Ihnen Barbara und Bruno Brawand-Moser aus Meiringen vorstellen. Die beiden wirken seit vielen Jahren in der Ländlerkapelle Echo vom Brünig mit und haben sich bereit erklärt, uns mit einem kleinen volkstümlichen Konzert zu unterhalten, zu dem ich mit meinem Bass beisteuern darf.« Aha, denke ich, dieser Bruno Brawand hat in die Familie Moser eingeheiratet.

      Und sogleich beginnt das erste Musikstück, ein traditioneller Schottisch. Die Finger der Brawands laufen mit atemberaubender Schnelligkeit auf den zahllosen Knöpfen ihrer Schwyzerörgeli hin und her. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie man seine Finger zu solcher Virtuosität trainieren kann. Währenddessen lässt Dietrich mit stoischer Ruhe den Bogen über die Saiten seines Kontrabasses hin und her gleiten. Schon nach wenigen Takten hat die fröhliche Melodie des Schottisch den ganzen Speisesaal in seinen Bann gezogen. Man wiegt sich im Takt, summt mit oder klopft den Rhythmus, sei es mit den Schuhen auf dem Fussboden oder mit den Fingern auf dem Tisch. Auch der nachfolgende Walzer im Dreivierteltakt nimmt das Publikum sofort mit, einige Paare sind sogar aufgestanden und drehen sich tanzend im Kreise. Ohne Pause folgt ein Musikstück dem anderen. Nach dem sechsten Stück steht Barbara Brawand auf, hält ihre Hände wie einen Trichter von den Mund und singt mit ganzer Inbrunst das sogenannte Sennengebet. Ein solches lassen die traditionellen Alphirten jeweils in der Abenddämmerung von den Bergen herab erklingen, wobei sie einen extra dafür angefertigten grossen, hölzernen Schalltrichter verwenden. Auf der Alp oben wäre das Ganze noch viel schöner anzuhören, weil die von den Bergflanken zurückkommenden Echos das Lied mehrstimmig erscheinen lassen und ihm einen schaurig-schönen Klang verleihen. Aber sogar hier im Saal läuft es mir kalt den Rücken herab. Nach einem letzten Schottisch legen die Musikanten ihre Instrumente nieder und verbeugen sich, unter langem Applaus, vor dem Publikum.

      Zum Abschluss des feinen Abendessens lasse ich mir einen Tessiner Grappa die Kehle hinabrinnen. Dann erhebe ich mich, verlasse den Speisesaal und begebe mich in die gleich gegenüber liegende, grosse Bibliothek des Hauses. Auch hier fühlt man sich absolut wie zu Thomas Manns Zeiten. Der Raum ist gegen zwanzig Meter lang und sechs Meter breit, und die Wände sind fast lückenlos mit Bücherregalen bedeckt. An der Fensterfront stehen sechs oder sieben breite, tiefe Polstersessel mit reichlich abgewetztem Bezug, und neben jedem Sessel steht eine Leselampe mit grossem, grünem oder gelbem Schirm, die bloss einen düster-bleichen Lichtkegel verbreitet. In der Längsachse des Raumes stehen, von hochlehnigen Stühlen umsäumt, drei rechteckige, schwere Tische. Zwei davon sind wohl als Lesetische gedacht, auf dem dritten, niedrigeren steht ein spielbereites Schachbrett.

      Unglaublich, was sich in dieser Bibliothek im Laufe der Zeit an Büchern angesammelt hat. Die meisten Bände sind wohl alte, klassische Werke. In eintöniger Reihe stehen sie auf dem Regal, mit ihren düsteren, dunkelgrauen oder braunen Bücherrücken und den kaum mehr leserlichen Titeln. Nur ab und zu leuchten dazwischen, wie Farbtupfer, neuere Bücher mit roten, gelben oder weissen Rücken auf. Ich schreite ganz langsam den Bücherreihen entlang und überfliege die Titel. Man könnte hier wohl ganze Tage damit zubringen, alte und neue Kostbarkeiten ausfindig zu machen, da und dort einen Band zur Hand zu nehmen, einige Seiten zu lesen, um dann in den langen Regalen weiter zu stöbern…

      Die Zeit verrinnt wie im Fluge in diesem ehrwürdigen Raum. Ich schaue auf die Uhr. Halb elf, Zeit für meine Zimmerruhe. Ich steige die Treppe hoch, gehe ins Bad und lege mich dann angekleidet mit einem Buch aufs Bett. Gähnend versuche ich, noch einige Seiten zu lesen, aber ich merke, wie mir die Augenlider schwer und schwerer werden…

      Plötzlich schrecke ich auf. Was ist denn da los? Ein dumpfer Lärm und ein unterdrückter Schrei haben mich geweckt. Jetzt meine ich, Schritte im Flur zu hören. Woher das wohl kam? Ich horche angestrengt. Von weit her höre ich leises Stimmengemurmel. Das muss von der Bar im Nebengebäude kommen, wohin sich viele Hotelgäste nach dem Essen zu einem Drink verzogen haben. Sonst herrscht absolute Stille im Haus.

      Habe ich mich getäuscht, das Ganze nur geträumt? Wahrscheinlich, denke ich, so muss es sein. Ich lege mich wieder aufs Ohr und döse bald wieder ein. Da: Unvermittelt zerreisst ein gellender Schrei die Stille! Eine Türe schlägt krachend, jemand poltert dumpf im Treppenhaus und schreit verzweifelt um Hilfe. Es ist eine Frauenstimme!

      

       Donnerstag, 19. Juli 2012

      »Schau mal«, rief Linda begeistert aus, »wie weit oben wir schon sind! Unser Hotel Rosenlaui sieht ja schon winzig klein aus, wie ein Puppenhaus!« Michael packte mit der rechten Hand das Seil, drehte sich talwärts und lachte auf.

      »Tatsächlich!« Michael und Linda waren um sechs Uhr morgens, als das Tal noch im tiefen Schatten lag, in forschem Tempo vom Hotel abmarschiert und hatten nach einer guten Stunde schon die Engelhornhütte erreicht, wo sie auf der Sonnenterrasse einen Tee tranken und ein Sandwich assen. Ihre Route führte dann durch das steinige und wilde Ochsental hinauf, bis zum Fuss der Nordwand des Grossen Engelhorns. Michael hatte die Wand schon achtmal durchklettert und Linda versprochen, sie diesen Sommer auf die schöne Tour mitzunehmen. Die Kletterei durch diese Wand war nicht einfach, aber der Kalkstein war immerhin stabil und bot guten Halt.

      Heute war es endlich soweit! Er schaute Linda an.

Скачать книгу