Das Komplott der Senatoren. Hansjörg Anderegg
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Anstatt wie jeden Abend um sechs zur Garfield-Green Station hinaufzusteigen, hatte Drake es vorgezogen, im Regen durch den Washington Park zu joggen. Der junge Mann sah ihn schon zwischen den Bäumen jenseits der Park Avenue verschwinden, als er realisierte, was Drake im Schilde führte.
Statt ihm zu folgen, ging er auf dem schnellsten Weg zur 51st, stieg die Treppe zur Hochbahnstation hinauf und wartete. Keine zehn Minuten später erschien der triefend nasse Drake auf dem Bahnsteig. Er folgte ihm unauffällig in den nächsten Zug der Green Line nach Norden. Er interessierte sich nicht für den schmächtigen, blassen Akademiker, der bei jedem Schritt aus seinen Kleidern zu fallen schien. Sein Auftrag lautete, die Dokumente sicherzustellen, doch das war nicht so einfach, wie es sich anhörte. Drake hatte den Plastiksack mit den Papieren unter die Windjacke gepackt. Unmöglich, ihm die Ware kurzerhand zu entreißen. Also beschattete er ihn weiter, wartete auf seinen Augenblick.
Der Zug näherte sich dem Loop. Es wurde eng im Wagen, und er konnte näher an den Verfolgten rücken ohne aufzufallen. Zu seiner Verblüffung sprang Drake unvermittelt auf, als sich die Türen an der Madison schon wieder zu schließen begannen und stürmte hinaus. Mit einem kräftigen Stoß sorgte er dafür, dass die Tür wieder aufflog und setzte ihm nach. Drake rannte die Treppe hinunter, eilte die Washington entlang und verschwand einen Block weiter um die Ecke in die North State Street. An dieser Ecke stand er nun, musste untätig zusehen, wie Drake den Umschlag aus dem Plastiksack in die blaue Mailbox fallen ließ. Bedauerlich nur deshalb, weil er nun den zweiten Teil des Auftrags erledigen musste, und das roch nach spätem Feierabend.
Als hätte er einen lästigen Verfolger abgeschüttelt, schlenderte Drake gemütlich weiter und betrat ein paar Schritte weiter das imposante Atrium von Macy’s. Der größte verdammte Laden, den er sich aussuchen konnte, ärgerte sich der junge Mann. Er musste sich dicht an Drakes Fersen heften, um ihn im abendlichen Menschengewühl nicht aus den Augen zu verlieren. Allmählich begann ihn dieser Auftrag zu langweilen. Mit Freunden im Bull’s Head das Spiel anzusehen wäre entschieden sinnvoller als sich hier durch penetrante Parfümwolken zu quälen. Aber er hatte keine Wahl. Er war der Tod.
Drake schaute weder links noch rechts, steuerte zielstrebig auf die Treppe zum Untergeschoss zu und ging am Pub vorbei zu den Toiletten. Vielleicht war der Abend doch noch nicht verloren. Er wartete, bis Drake die Tür zu seinem Abteil geschlossen hatte und betrat das Pissoir. Sie waren beinahe allein, nur ein älterer Mann wusch sich noch die Hände, bevor er den Raum verließ. Er stellte sich vor Drakes Abteil auf, zog seine zuverlässige Glock 19 mit aufgeschraubtem Schalldämpfer aus dem Schulterhalfter und entsicherte sie. Die Spülung rauschte, der Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür öffnete sich, doch der junge Mann ließ die Hand mit der Pistole blitzschnell wieder sinken, denn in diesem Augenblick wankten zwei Burschen herein, die offenbar schon längere Zeit im Pub gesessen hatten. Er drehte sich zur Seite, um die Waffe zu verbergen und verzog sich ins nächste Abteil. Die Jagd war noch nicht zu Ende.
Drake hatte es plötzlich eilig. Er hetzte die Treppe hinauf, aus dem Warenhaus und war schon nicht mehr zu sehen, als sein Verfolger auf die Strasse hinaus trat. Nicht schon wieder, dachte der junge Mann gereizt. Er hatte keine Lust zu spielen bei diesem Wetter. Er schlug die Kapuze über den Kopf und spurtete zur Ecke Randolph. Randolph / Wabash war die nächste Station der Hochbahn, das musste das nächste Ziel des Verrückten sein, wenn er nach Hause wollte. Er lächelte wieder, als er ihn auf der anderen Straßenseite rennen sah und setzte ihm nach. Mit gesenktem Kopf schlängelte er sich zwischen hupenden Autos hindurch über die Strasse. Den Touristenbus sah er nicht kommen, aber er spürte ihn, als er unmittelbar neben ihm kreischend zum Stillstand kam. Die herzhaften Flüche des Fahrers hörte er kaum noch. Er war längst weiter, hatte seine Beute beinahe eingeholt. Er musste jetzt in Drakes Nähe bleiben, falls dem noch weitere Eskapaden einfielen. Dem Hühnervogel sei Dank, der Mann stieg tatsächlich die Treppe hoch zur Station.
Sie erreichten die Plattform zur gleichen Zeit, als der Zug der Brown Line nach Kimball, wo Drake wohnte, eben abfuhr. Einige Minuten Verschnaufpause, auch gut. Er stellte sich unmittelbar hinter Drake, obwohl er nicht annahm, dass dieser anderes vorhatte, als auf seinen nächsten Zug zu warten. Auf dem Geleise gegenüber fuhr ein Zug der Purple Line ein, kurz danach eine Komposition der Green. Drake hatte sich nicht von der Stelle gerührt, wartete stoisch auf seinen Anschluss. Orange fuhr mit hohem Tempo in die Station ein, wie die anderen Züge vor ihr. Es schien den Lokführern Spaß zu machen, erst im letzten Augenblick abrupt zu bremsen. Die Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, kannte er von frühester Jugend an, hatte sie schon tausend Mal gesehen, aber heute lösten sie einen völlig neuen Gedankengang in seinem brillanten Hirn aus. Der Tod war kreativ. Drake tat einen Schritt nach vorn. Sein Zug näherte sich. Perfekt, dachte der junge Mann und stieß ihn mit einem unauffälligen, aber umso kräftigeren Stoß vor die einfahrende Lok. Die Räder blockierten sofort, Eisen kreischte auf Eisen, Funken stoben durch die Luft, auf die Plattform. Leute schrien, sprangen entsetzt zur Seite, traten sich auf die Füße, schimpften. Das Durcheinander war vollkommen. Alle Augen richteten sich auf das Geleise, auf die blutigen Überreste des schmächtigen Mannes, der hier vor ein paar Sekunden noch auf seinen Zug gewartet hatte, wie sie alle. Niemand bemerkte den Kapuzenmann, der ruhig die Treppe hinunter ging und die Station unauffällig verließ. Bevor er auf die Strasse trat, zog er seine Jacke aus, drehte sie mit geübtem Handgriff um, klappte die Kapuze hinein und zog sie wieder an. Er glaubte nicht, dass ihn jemand beobachtet hatte, aber Vorsicht gehörte zu seinem Handwerk. Aus dem schwarzen Kapuzenmann war jetzt ein Geschäftsmann im hellen Jackett geworden. Die Nässe auf dem Körper störte ihn nicht. Wichtig war jetzt nur, das Spiel nicht zu verpassen. Er schaute auf die Uhr und lächelte zufrieden. Wenn er sich beeilte, konnte er es noch schaffen ins Bull’s Head.
Potomac, Maryland
Finn O’Sullivan war ein stattlicher Mann, der jeden beeindruckte, der ihm gegenüber stand, auch wenn er seine konservative Wertordnung keineswegs billigte. Seit vielen Jahren war er als Senator des Staates Arizona auf dem Capitol Hill genauso zu Hause wie in Phoenix. Die herrschaftliche Villa im vornehmsten Viertel von Potomac bei Washington war ihm nach dem frühen Tod seiner Frau zum festen Wohnsitz geworden. Das kühlere Klima hier sagte ihm ohnehin besser zu. Daheim in Arizona brauchte er sich nur noch auf wenigen, wirklich wichtigen Empfängen und während des Wahlkampfs sehen zu lassen, denn sein Sitz im Senat war so sicher wie das Amen in der Kirche. Als Vorsitzender des mächtigen Energy and Natural Resources Committee übte er großen Einfluss auf das politische Geschehen aus. Kein Abgeordneter, der bei Verstand war, legte sich freiwillig mit dem sturen Iren aus Phoenix an.
»Danke, Ted, ich brauche Sie heute nicht mehr«, verabschiedete er den Fahrer vor dem pompösen Portal, dessen elegante Säulen ihn jedes Mal an den Triumphbogen auf dem ehrwürdigen Forum Romanum erinnerten. Er war froh, die Sitzung mit den Vertretern der Wasserwerke ohne konkrete Zusagen hinter sich gebracht zu haben. Seiner Meinung nach gab es entschieden zu viele unter ihnen, die der Privatwirtschaft das Wasser abgraben wollten. Einmal mehr hatte er seine kostbare Energie für die ewiggleiche Diskussion verschwendet, anders ließ sich das gute alte Gesetz der ›biggest pump‹, der größten Pumpe, wohl nicht durchsetzen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum diese Leute nicht begriffen, dass das Grundwasser einzig und allein dem Landbesitzer gehörte, genauso wie das Gras, das auf seiner Farm wuchs, und dass er damit machen konnte, was ihm passte. Der konnte das Wasser den Stadtwerken verkaufen oder den Wasserkonzernen wie Mamot, die es in Flaschen abfüllten, verteilten und teurer weiterverkauften. In diesem Land herrschte freie Marktwirtschaft.