Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg страница 13
»Was gibt’s denn an deinen Daten zu feilen?«, fragte Irwyn, als sie sich in seinem Büro auf das alte Bentley-Polster setzten.
»Nicht an den Daten, natürlich. Die Darstellung gefiel mir noch nicht. Ich glaube, jetzt habe ich eine bessere Visualisierung gefunden.« Die neuen Grafiken vermittelten dem Betrachter auch ohne viel Text, was er aussagen wollte. Den Zahlenfriedhof seiner unzähligen Modellrechnungen anschaulich darzustellen, war beinahe die größte Herausforderung seiner Arbeit. Visualisierung, eine Wissenschaft für sich im Zeitalter der Statistik und der gigantischen Netzwerke. Er war froh, die Hilfe einiger begabter Kollegen in Anspruch nehmen zu können. Und natürlich Irwyns besonderes Talent.
Der Professor betrachtete die neusten Darstellungen eine Weile kritisch. Dann schob er sie plötzlich weg, als hätte er jedes Interesse verloren. Statt sie zu kommentieren, fragte er: »Zufrieden?«
»Eigentlich wollte ich dich das fragen.«
Irwyn schüttelte den Kopf. »Bist du zufrieden mit deiner Aussage, meinte ich. Du zeigst, dass dein Modell die Goldblase von 2010 wesentlich genauer vorhergesagt hätte als das FCO. Gut, aber bist du damit zufrieden?«
Ryan zögerte mit der Antwort. Sein Mentor hatte genau den wunden Punkt erwischt. Im wesentlichen lautete seine kurze Frage nämlich: Glaubst du, genug gearbeitet zu haben für deinen PhD? Wenn er darüber nachdachte, konnte er nicht mit einem klaren Ja antworten.
Irwyn deutete sein Zögern richtig. »Du zweifelst«, stellte er fest. Bevor du verzweifelst, möchte ich eines klarstellen. Aus meiner Sicht könntest du die Arbeit hier abschließen. Ich würde sie zur Annahme empfehlen. Was das bedeutet, weißt du ja. Aber – ich glaube, du kannst noch mehr herausholen.«
Meine Worte, dachte Ryan. Mehr herausholen wollte er auch. Jahrelange Arbeit, um ein paar bekannte Resultate zu verbessern, befriedigte ihn nicht. Sein Modell beschränkte sich nicht auf die Analyse von Börsendaten. Er durchforstete das ganze Internet mit raffinierten Filtern und Algorithmen. Seine Computerfarm am Institut analysierte in kurzer Zeit hunderttausende Twitter-Meldungen, Blogs und Webseiten. Mit ausgeklügelten Methoden der Graphentheorie und Topologie stellte er Zusammenha¨nge zwischen Gerüchten, Ereignissen und dem Börsengeschehen her. Dabei war ihm erst kürzlich etwas aufgefallen.
»Du hast recht«, nickte er nachdenklich. »Bei verschiedenen Messreihen habe ich festgestellt, dass die resultierende Verteilung über weite Strecken stabil bleibt. Blöd gesagt: weniger Daten genügen bereits für eine zuverlässige Aussage, vorausgesetzt, man erwischt die richtigen.«
»Ziemlich blöd gesagt, aber ich verstehe, was du meinst. Wenn du das beweisen kannst, lässt sich dein Modell auch für weniger liquide Assets anwenden. Das wäre ein echter Durchbruch. Traust du dir das zu in der verbleibenden Zeit?«
Er wusste es nicht, doch im Geiste brütete er schon über seinen Notizen, als er das Büro verließ. Ein Teil seines Hirns arbeitete weiter an der neuen Herausforderung, während er sich mit den Übungen der unteren Semester beschäftigte. Am frühen Nachmittag war die Pflicht endlich erledigt. Er konnte sich wieder voll der Kür zuwenden. Die Funktionen und Gleichungen seines Modells hingen im Grossdruck an der Wand neben seinem Bürofenster. Wie schon oft, stellte er sich davor, um sich inspirieren zu lassen. Die Gedanken mussten sich möglichst locker an das Problem herantasten, es aus der Vogelperspektive allmählich einkreisen. Dazu war diese Wand da. Draußen verdüsterte sich der Himmel zusehends. Das angekündigte Unwetter war da. Bald klatschten die ersten schweren Regentropfen aufs Sims. Im Zimmer war es so dunkel, dass er das Licht einschalten musste. Immer wieder ließ er den Blick über die Variablen, Summen und Integrale schweifen, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Im Grunde war sein Problem schnell formuliert, doch das änderte nichts daran, dass es harte Knochenarbeit war, eine Lösung zu finden. Er wollte sein Modell verallgemeinern. Es besaß zu viele Parameter und Randbedingungen, die auf die Spezialfälle von Finanzblasen zugeschnitten waren, die er bisher untersucht hatte.
»Es müsste doch, verdammt noch mal, möglich sein, Zeitintervalle und Messpunkte automatisch festzulegen«, warf er der Hieroglyphenwand vor. Er schloss die Augen. Jessies verträumter Blick überstrahlte kurz die vielen x, i, j, Gammas und Thetas, dann schlug er sich unvermittelt an die Stirn. »Trottel«, schalt er sich. Es war so offensichtlich. Er brauchte seine Zeit nicht mit den Formeln für die Berechnung der Resultate zu verschwenden. Die Eingabefilter musste er sich vornehmen. Es lief genau auf das hinaus, was er leichthin zur Wand gesagt hatte. Wenn er es schaffte, die Eingabefilter automatisch zu konfigurieren, dann würde sein Modell nicht nur die Finanztitel automatisch finden, die für eine Blase infrage kämen, es würde ihm auch gleich beantworten, für welche Kategorien von Titeln sein Modell taugte. Er rannte hinaus, den Korridor hinunter zur Kaffeeküche, schenkte sich einen Becher der siedend heißen, sauren Brühe ein, eilte an den Schreibtisch zurück und begann, die Filter umzubauen.
Dutzende zerknüllte Seiten weiter, sechs Stunden später, mit einem knurrenden Magen, den man bis in Irwyns Büro am andern Ende des Flurs hören musste, glaubte er soweit zu sein. Es blieb lediglich noch, die Software an die modifizierten Formeln anpassen, eine vergleichsweise kinderleichte Übung. Der Zeitpunkt für den Testlauf war gut. Abends um acht war nicht mehr viel los auf der Serverfarm. Er startete seine neue Modellrechnung mit der vollständigen Datenbasis als Eingabe. Ein Datenchaos aus Text und Zahlen von nahezu tausend Gigabytes. Die Rechnerei würde die ganze Nacht dauern. Mit ein wenig Glück erwartete ihn am nächsten Morgen ein Resultat, wie er es noch nie gesehen hatte. Etwas weniger Glück, und einmal mehr würde ihn nur die Fehlermeldung Abort xyz begrüßen.
Mr. Meriwether begriff nichts von seiner Arbeit. Er hatte nicht das geringste Verständnis dafür, dass Ryan ihm am nächsten Morgen nur ein Tellerchen mit etwas Milch hinstellte. Er drückte sich so lange jammernd zwischen seinen Beinen herum, bis er den vertrockneten Rest seines Sandwichs holte und ihm ein paar Krümel der Füllung hinstreute, die einmal Schinken gewesen war. Mr. Meriwether machte einen Bogen um die Katastrophe, leckte seine Milch auf und ließ ihn stehen.
An diesem Morgen rannte er ins Institut. Atemlos drückte er auf die Leertaste, um den Bildschirm aufzuwecken. Er wagte kaum hinzusehen. Keine Fehlermeldung. Seine Hand zitterte leicht, als er mit der Maustaste durch die Tabellen und Grafiken blätterte, die sein Programm erstellt hatte. Ein Wonnegefühl durchrieselte ihn, durchaus vergleichbar mit dem Augenblick, als Jessie ihn zum ersten Mal mit einer Leidenschaft auf den Mund küsste, dass er sich auf der Stelle in reine Energie auflöste. Hastig druckte er einige Seiten aus und rannte damit zu seinem Professor.
»Heureka!«, rief er lauthals, während er ins Büro stürzte.
»Auch einen guten Morgen wünsche ich dir«, brummte Irwyn verschlafen, ohne aufzuschauen. »Komm doch herein.«
»Sorry – aber – hast du einen Moment Zeit?«
Als Irwyn das verschmitzte Grinsen im Gesicht seines Doktoranden bemerkte, lächelte auch er. »Her mit dem Wisch«, befahl er mit einer fordernden Handbewegung. Er studierte die neuen Resultate eingehend. Das war so üblich. Erst machte er sich selbst ein Bild, bevor er etwas hören wollte. »Nicht schlecht«, sagte er schließlich mit undurchdringlicher Miene. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete