Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg

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dass er damals nach dem Studium Kalifornien nicht freiwillig verlassen hatte. Ein Job in der Forschung und Entwicklung im verheißungsvollen Silicon Valley wäre ihm hundertmal lieber gewesen, als die Routinearbeit auf Taiwan. An seinen Zensuren konnte es nicht gelegen haben. Die waren samt und sonders erstklassig. Die Absagen waren rein politisch motiviert, keine Frage. Er war kein Amerikaner, schlimmer: er war Chinese wie Stanley Wu, wenn er auch nicht aus der Volksrepublik stammte. Die Filter der arroganten Amis waren sehr grob eingestellt. Danny versuchte so gut es ging, dieses leidige Thema zu verdrängen. Umso mehr erschütterte Wus Bemerkung sein Selbstvertrauen. Sein Gegenüber hatte ihn die ganze Zeit forschend angesehen. Er schien in seinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Schließlich sagte er:

      »Für uns ist es natürlich ein Glück, dass Sie nach Taiwan zurückgekehrt sind, Dr. Chen. Ich verstehe leider nichts von Ihrer Arbeit, aber meine Berater sagen mir, dass Sie einer der führenden Spezialisten für hoch integrierte CMOS Schaltkreise sind. Das ist genau was wir brauchen für unser Entwicklungsprojekt. Sagen die Berater.«

      Die einseitige Konversation drehte sich plötzlich um ein Thema, in dem sich Danny auskannte. Er fühlte sich augenblicklich auf sicherem Boden, vergaß die latente Bedrohung, die ihn bisher gelähmt hatte. »Worum geht es bei dieser Entwicklung?«, fragte er interessiert.

      Wus Mondgesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Eine sehr heikle Spezialanfertigung für einen wichtigen Kunden. Mehr darf ich Ihnen nicht verraten. Das Projekt läuft unter höchster Geheimhaltung. Wie gesagt, ich verstehe ohnehin nichts von Ihrer Arbeit. Ich weiß nur, dass Sie der richtige Mann dafür wären, der uns noch fehlt.« Er griff in sein Jackett, zog einen Briefumschlag heraus und reichte ihn Danny. »Lesen Sie. Hier steht alles Wichtige drin. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er erhob sich unvermittelt und entschuldigte sich: »Ich muss einen dringenden Anruf erledigen. Bitte bleiben Sie sitzen, ich bin gleich zurück.«

      Verwirrt öffnete Danny den Umschlag. Die Schlange an der Tür beobachtete ihn lauernd, doch je weiter er las, desto unbedeutender wurde die unheimliche Frau, die ihn hierher gelockt hatte. Von einem solchen Angebot hatte er stets geträumt. Entwicklungsleiter bei einem der größten Hersteller von integrierten Schaltkreisen und Platinen für Computer. Nicht im Silicon Valley zwar, in Hsinchu auf Taiwan, wo die meisten großen Konzerne ihren Sitz hatten. Aber mit durchaus vergleichbarem Salär, geradezu unverschämt für taiwanische Verhältnisse. Im Geiste sprang er auf die Tischplatte, führte er einen ausgelassenen Freudentanz auf und brüllte mit jedem Abschnitt lauter: »Ja – ja – ja!« Er hätte den Vertrag auf der Stelle mit seinem Blut unterschrieben, auch ohne den letzten Absatz, der ihm eine ständige Kreditlimite für Wus Kasinos über 500’000 Pataca garantierte. Als Wu zurückkehrte, lächelte auch Danny zum ersten Mal entspannt, seit er diesen Saal betreten hatte.

      Weymouth, Dorset, Uk

      Das viktorianische Haus mit den übermächtigen Erkern und den verspielten Dachgiebeln thronte auf der kleinen Anhöhe am Greenhill über dem Sandstrand von Weymouth wie ein in Stein gemeißelter Muskelprotz. Jedes Mal ging Ryan dieser Gedanke durch den Kopf, wenn er hier aufkreuzte. Vielleicht regten ihn die hautfarbenen Backsteine zu diesem Gleichnis an. Jedenfalls strahlte das prachtvolle Bed & Breakfast der Whites auch an diesem Morgen wieder die heitere Wonne eines frisch geduschten Bademeisters aus. Auch wenn er sich nicht für das biedere Kleingewerbe von Jessies Mutter erwärmen konnte, das Haus und seine traumhafte Lage mit unverbaubarem Blick aufs offene Meer weckten schon manchmal echten Neid in ihm. Dagegen war das bescheidene Reihenhaus seiner Eltern an der Kirkleton, wo es Parkplätze statt Vorgärten gab, der reine Mief. Bisher hatte er nur einen Vorteil seiner Straße gegenüber Greenhill entdeckt: sein Haus lag näher am ›Tesco‹. Nicht zu unterschätzen für einen Jungen, der nichts so sehr verabscheute wie Zeit zu verlieren beim Einkaufen.

      Der milde Frühling war zurückgekehrt. Jessies Mutter kniete neben der Treppe vor dem Haus und setzte die ersten Primeln.

      »Morgen Hazel«, grüsste er sie. »Geht’s endlich los mit der Blütenpracht?«

      »Sieht man das?«, gab sie kühl zurück, ohne von ihrer Arbeit abzulassen.

      Charmant wie immer, dachte er. Hazels ironische Kommentare störten ihn nicht mehr. Schon eher, dass sie sich vorwiegend gegen ihn richteten. »Oder gibt das Gemüse?«, fragte er laut. Er konnte auch.

      Wenigstens erreichte er damit, dass sie ihn ansah. »Sehr witzig, du Zahlenkünstler. Lernt man das in diesem Bristol?«

      Wie viel Abscheu doch in einem Wörtchen wie diesem liegen konnte. Sie vergaß das hässliche Demonstrativpronomen nie, wenn sie von der ›Industriestadt im Norden‹ sprach.

      »Lass das, Ma.«, rief Jessie durch die Türöffnung. »Du bringst den armen Ryan ganz durcheinander.« Mit zwei Sprüngen war sie bei ihm, den Picknickkorb am Arm, die rote Windjacke offen über die Schulter geschlungen. Sie gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn weg. »Danke fürs Boot«, rief sie nach hinten, als sie schon auf der Straße waren.

      »Ich muss schon sagen: Hazel hat ihre Zähne noch nicht verloren«, grinste er, während er leichtfüßig neben ihr auf der Strandpromenade dem Hafen zustrebte. Ihr zartes Parfüm und alles, was seine lebhafte Fantasie damit verband, schien die Schwere aus seinem Körper zu ziehen. Hätten sie beide plötzlich abgehoben, er hätte sich nicht im Geringsten gewundert.

      »Sie hat manchmal Haare auf den Zähnen, aber das weißt du ja«, gab sie zu.

      »Allerdings. Ist aber nett, dass sie uns die ›Schöne Matilda‹ überlässt. Wie hast du das nur geschafft?«

      »Ich habe gar nichts getan. Dein Hochsee-Segelschein hat sie überzeugt.«

      Sie flunkerte, das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich musste Jessie ihrer Mutter wer weiß was versprechen, bis sie den Schlüssel zum Liebling ihres verstorbenen Gatten herausrückte. Das hervorragend unterhaltene fünfzigjährige Segelboot hieß tatsächlich nicht einfach Matilda. Es war die schöne Matilda, und das Schiff trug den Namen mit vollem Recht: Hülle und Aufbauten aus massiver Eiche, das Deck und die Kabineneinrichtung aus poliertem Teakholz. Die Schöne war mit ihren neun Metern Länge zwar klein aber eine Augenweide für jeden Betrachter. Und, nicht zu vergessen, die Kabine war groß genug für zwei Erwachsene.

      Mit eingerolltem Segel tuckerten sie unter der Hafenbrücke hindurch, an den Fischerbooten und historischen Backsteinhäusern des äußeren Hafens vorbei aufs offene Wasser des Ärmelkanals. Auf den ersten Blick sah die bunte Häuserzeile wohl heute noch aus wie zur Zeit, als Sir Christopher Wren hier den Portland-Stein für die Saint Paul’s Kathedrale verschiffte.

      Trotz des fast wolkenlosen Himmels kroch die Kälte schnell durch die Kleider, nachdem sie den Hafen verlassen hatten. Ihn störte das nicht, Jessie ebenso wenig. Es war Wochenende, die Sonne schien, also verbrachte man den Tag draußen. Alle hielten sich an diese einfache Regel. Gut verpackt in ihrer Jacke reichte sie ihm einen Becher dampfenden Kaffee aus dem Thermoskrug. Die frische Brise hatte ihre Wangen und die Nasenspitze gerötet, ein wunderbarer Kontrast zu den himmelblauen Augen. Mit den frech aus der roten Kapuze guckenden goldenen Haarstränen glich sie einem freundlichen Kobold. Und dieser unvergleichliche Schlafzimmerblick, der einem auf der Stelle den Verstand raubte. Vergessen waren Asymptoten, Gammafunktion und partielle Differenzialgleichungen. Gegen diesen Blick hatte nicht einmal ein Carl Friedrich Gauß den Hauch einer Chance. Und der war immerhin der größte Mathematiker aller Zeiten. So war das, und deshalb stand er an diesem Samstagmorgen frierend auf dem polierten Deck der ›Schönen Matilda‹.

      Sie waren beide geübte Segler, also setzten sie die Fock und das Großsegel, steuerten härter an den Wind und führten ein paar Alibi-Wendemanöver durch. In der Mitte der Bucht holten sie die Segel wieder ein.

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