Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg

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der Fähre nach Guernsey an ihnen vorbei. Sie saßen im Windschatten an der Kajütenwand. Eine Weile schwiegen sie sich an, griffen abwechselnd in den Picknickkorb und ließen sich von der Sonne wärmen. Hin und wieder wagte eine verirrte Möwe eine Landung auf ihrem Baum, machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu, um ihnen beim Kauen zuzuschauen.

      »Ich verstehe nicht, wie George von hier wegziehen konnte«, sagte Jessie plötzlich zur Möwe, die erschrocken wegflatterte.

      »George?«

      »Ma’s kleiner Bruder, du weißt schon.«

      »Ach so, der Unfall im Bergwerk.«

      »Es war kein Unfall. Ein Anschlag auf die Mine soll es gewesen sein. Terroristen.«

      Er schaute sie ungläubig an. »Terroristen«, wiederholte er verächtlich. »Typisch Amerikaner. Wenn sie sich etwas nicht gleich erklären können, steckt al-Qaida dahinter.«

      »Ist aber so«, meinte sie trotzig. »Die Mine wurde richtiggehend in die Luft gesprengt.«

      »Er wurde verschüttet?«

      Sie nickte und murmelte: »Wenigstens musste er nicht leiden, sagt Ma.«

      »Was bauten sie denn ab in dieser Mine?«

      »Weiß nicht. Irgendwelche Metalle halt. Was hat ihn nur an dieser gottverlassenen Gegend gereizt? Ich glaube, ich bleibe mein ganzes Leben hier in Weymouth. Gibt nichts Schöneres.«

      »Na ja, ich lebe jetzt auch in Bristol.« Es war ihm herausgerutscht, und er bereute die Bemerkung augenblicklich.

      »Eben«, sagte sie nur.

      Wieder der Schlafzimmerblick. Es war nicht zum Aushalten. Heute musste er den Durchbruch schaffen, den gewagten Schritt von der Freundschaft zur Liebschaft, sonst würde er elend krepieren. Aber seine alberne Bemerkung machte die Sache nicht einfacher. Sein Telefon klingelte, bevor er dem Schlachtplan einen weiteren Gedanken widmen konnte.

      »Wusste gar nicht, dass man hier Empfang hat«, brummte er unwirsch und drückte die Empfangstaste.

      »Ryan?«, rief eine aufgeregte Stimme aus dem Hörer. Ohne auf seine Antwort zu warten, schwatzte die Anruferin atemlos weiter: »Ich bin’s, Mrs. Pendergast, die Nachbarin. Deine Mutter ist von der Treppe gestürzt. Sie ist im Krankenhaus, hat den Knöchel gebrochen. Es geht ihr gut, aber du solltest sofort herkommen. Hallo?«

      Er unterdrückte einen Fluch. »Ich fahre so schnell es geht ins Krankenhaus, Mrs. Pendergast«, murmelte er. »Vielen Dank für den Anruf.« Er legte schnell auf, bevor die berüchtigte Quelle weitersprudelte.

      Jessie war aufgesprungen. »Krankenhaus?«, rief sie betroffen. »Was ist passiert, um Himmels willen?«

      »Meine Mutter. Sie ist gestürzt.« Als er sah, wie sie erschrak, fügte er schnell hinzu: »Nichts weiter – sonst ist sie wohlauf.«

      »Gott sei Dank«, seufzte sie und drückte ihn zum Trost an ihre Brust.

      So funktioniert es also, dachte er, verwarf den unanständigen Gedanken aber sofort wieder. Der Zustand seiner alten Mutter bereitete ihm ernsthafte Sorgen. Allzu lange sollte sie nicht mehr allein in ihrem Häuschen bleiben.

      Weißes Haus, Washington DC

      Bob Wilson saß nicht zum ersten Mal in einer Sitzung im Weißen Haus. Als Deputy Director der Nationalen Sicherheitsbehörde, NSA, musste er seinen Boss hin und wieder an einem Briefing oder Hearing vertreten. Diesmal aber war es anders. Der Sicherheitsberater des Präsidenten persönlich hatte die Spitzen des gigantischen Sicherheitsapparates der Vereinigten Staaten zu diesem geheimen Meeting ins abhörsichere Zimmer im innersten Kern des Weißen Hauses geordert. Cheryl Rudd, Direktorin des FBI, saß sichtlich nervös zu seiner Linken auf der Stuhlkante und blätterte in irgendwelchen Unterlagen. Der Untersekretär für Wissenschaft und Technologie vertrat das DHS, das Department of Homeland Security, das seine glitschigen Finger wie ein Riesenkrake seine Tentakel in alle Geheimdienste steckte. Sogar in seine NSA. Die Leute aus Langley kannte er bisher nur dem Namen nach. Admiral Jack Parker, den Vorsitzenden des Generalstabs, war jedem aus dem Fernsehen bekannt. Er vertrat das Verteidigungsministerium. Der Verteidigungsminister selbst zog es vor, der Sitzung fernzubleiben, die er nicht selbst leitete. Jeder der Chefs brachte noch mindestens zwei Spitzenbeamte mit, von denen Bob einen einzigen flüchtig kannte. Das Zimmer war nicht für solche Volksaufläufe gedacht. Zum Teil saßen die Leute in zwei Reihen um den großen Tisch. Nur Pete Miller vom DHS sprach gedämpft mit Admiral Parker, sonst herrschte gespannte Ruhe.

      Die Tür flog auf. Der Sicherheitsberater stürmte herein. »Bleiben Sie bitte sitzen – Morgen«, rief er mit seinem kräftigen Bass, während er zum Platz am Kopfende des Tisches eilte. Michael Morris war immer in Eile.

      »Verlieren wir keine Zeit«, sagte er. Sein gereizter Gesichtausdruck verriet, dass er meinte, was er sagte. »Der Präsident will meinen Bericht in einer Stunde. Also…« Er schaute kurz in die Runde. Mit einem angedeuteten Lächeln fixierte er die Direktorin des FBI. »Nun, Cheryl, was haben Sie uns zu sagen?«

      »Danke, Michael«, antwortete sie. Sie war jetzt die Ruhe selbst, wie Bob verwundert feststellte. Souverän, mit der selbstverständlichen Routine des Stammgasts in diesen Kreisen, begann sie ihren Bericht:

      »Am 9. März, 0817, ereignete sich eine Explosion auf dem Gelände der ›Nedys Corp‹ in Mountain Pass im Südosten Kaliforniens. Die Firma betreibt dort im Tagebau die größte Mine für Seltene Erden auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Die Explosion hat das Verwaltungsgebäude und drei der angrenzenden Lagerhallen und Betriebsgebäude zerstört. Um 0820 gingen insgesamt fünf Sprengladungen am Kraterrand hoch, was zu einem massiven Felssturz führte, der zwölf Leute verschüttete, darunter fast die gesamte Betriebsleitung. Keiner hat überlebt. Eine Minute später explodierten ebenfalls fünf Sprengsätze auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters. Der anschließende Felssturz begrub zehn Mineure, die gerade ihre Schicht angetreten hatten. Auch sie überlebten nicht. Experten, die das Bergwerk nach dem Anschlag untersucht haben, kamen zum Schluss, dass der Betrieb dort, wenn überhaupt, erst in frühestens fünf Jahren wieder aufgenommen werden kann. Der materielle Schaden und die Kosten für einen Wiederaufbau belaufen sich nach neusten Schätzungen auf eine halbe Milliarde Dollar.«

      »Was heißt: wenn überhaupt?«, fragte Morris.

      »Man hat kurz vor dem Anschlag Radioaktivität im Fels festgestellt. Das war auch der Grund, weshalb sich die Betriebsleitung im Krater befand.«

      »Danke, Cheryl. Das Ganze hört sich nach einem sinnlosen Gemetzel an. Einige von uns wissen inzwischen, dass weit mehr dahinter steckt. Bevor du den Stand der Ermittlungen präsentierst, möchte ich, dass uns das DHS in aller Kürze erklärt, weshalb dieser Anschlag so verdammt wichtig ist, mal abgesehen von den Toten.«

      Pete Miller räusperte sich umständlich, bevor er so schnell zu sprechen begann, dass Bob anfangs nur die Hälfte verstand. Millers Aussage interessierte ihn sowieso nur am Rande. Er war längst im Bilde, was da in den Bergen Kaliforniens gesprengt worden war. Seltene Erden kamen überall und häufig vor in der Erdkruste, aber abbaubare Vorkommen gab es in den Vereinigten Staaten im Wesentlichen nur eines – bis zum 9. März. Jetzt gab es nichts mehr auf amerikanischem Boden. Die ganze Weltproduktion von Neodym, Dysprosium und anderen Lanthanoiden kam aus China, und die brauchten mehr und mehr dieser Metalle für die eigene Produktion. Miller betonte die Wichtigkeit der Seltenen Erden für die Streitkräfte. Wenn die Nachschub brauchten, war keiner mehr da, falls die Chinesen dicht machten.

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