Goetheherz. Bernd Köstering

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Goetheherz - Bernd Köstering

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ungewohnte Ansichten: die neue Hanna. Es wurde Zeit für Hendrik, sich daran zu gewöhnen.

      *

      Moverapid

      Frankfurt a. M., Donnerstag, den 16. Oktober, vormittags

      Hendrik Wilmut saß in der Straßenbahn auf dem Weg zur Uni, als sein Handy klingelte. Er nahm ab.

      »Richard hier, hast du am Samstag Zeit, mit Pascal und mir nach Gießen zu fahren?«

      »Wie bitte?«

      »Ich habe eine Besprechung anberaumt mit den Kollegen aus Frankfurt, Gießen und Weimar. Plus Siggi und dir. Wir treffen uns im Polizeipräsidium Mittelhessen.«

      »Eine weitere Frauenleiche? Wo?«

      »In Straßburg. Friederike Meyer.«

      Hendrik atmete tief durch. Wie weit sollte das noch gehen? Hätte er den Tod dieser Frau verhindern können? Oder sogar verhindern müssen? Das schlechte Gewissen pochte in seinen Eingeweiden.

      »Bist du noch dran?«, fragte Richard.

      »Ja. Natürlich. Das muss ich erst einmal verdauen. Wann wurde diese Friederike …?«

      »Meyer. Mit e und y.«

      »Ja, diese Friederike Meyer, wann wurde sie ermordet?« Etwas anderes als Mord kam Hendrik nicht in den Sinn.

      »Am 6. Oktober, also vor rund zehn Tagen«, antwortete Richard.

      Ein wenig beruhigte sich Hendriks Innenleben. Er hätte den Tod von Friederike Meyer nicht verhindern können, nicht am Montag letzter Woche, dem Tag, an dem er abends mit Richard beim Patron gespeist hatte. Trotzdem ließ sich das Chaos der Selbstvorwürfe in seinem Innern nicht entwirren.

      »Übrigens, Hendrik. Der Anruf gestern während unseres Mittagessens, das war Sonja Müller.«

      »Die Tochter von Elisabeth Müller?« Das war ihm inzwischen wieder eingefallen. Sonja M. – so hatte es im Zeitungsbericht gestanden.

      »Genau. Beim Aufräumen der Wohnung ihrer Mutter hat sie eine kleine Patrone gefunden, die hing zwischen Bett und Wand. Ich habe meine Kollegen von der KTU schon zusammengestaucht, hätten sie eigentlich finden müssen. Na ja, zum Glück war die Tochter aufmerksam.«

      »Was für eine Patrone?«

      »Moverapid Penfill. Das ist die Nachfüllpatrone für einen Insulinpen, eine Applikationshilfe für Diabetiker. Move­rapid ist ein kurzfristig wirkendes Insulin.«

      »Verstehe. Ich muss klären, ob ich Hanna am Samstag allein lassen kann, dann sage ich dir Bescheid.«

      »Okay. Pass auf, es wäre wichtig, dass du mitkommst. Wir müssen den Verdacht auf eine Mordserie eindeutig klären. Vielleicht kann deine Mutter so lange bei Hanna bleiben. Was meinst du?«

      »Sie war gestern erst da. Außerdem hat Mutter gerade einen Rheumaschub, sie kann sich kaum bewegen.«

      »Oder umgekehrt, Hanna bei deiner Mutter?«

      »Ich versuche es!«, brummte Hendrik.

      *

      Durch die Wand

      Gießen, Samstag, den 18.Oktober, vormittags

      Richard Volk und Pascal Simon holten Hendrik bei Hedda Wilmut im Offenbacher Hafenviertel ab und fuhren von dort über den Kaiserleikreisel direkt auf die A 661 in Richtung Norden. Simon saß am Steuer, Hendrik und Richard auf der Rückbank, sodass sie sich bequem unterhalten konnten.

      »Hanna geht es besser«, berichtete Hendrik. »Ich passe auf, dass sie genug Flüssigkeit zu sich nimmt, egal in welcher Form. Seit sie zurück ist, hatte ich schon drei Hühner im Kochtopf.« Sie lachten und Hendrik merkte, dass es guttat. »Sie ist jetzt bei meiner Mutter. War eine gute Idee von dir!«

      »Hm«, antwortete Richard. »Schön, wenn man noch eine Mutter hat, die einem helfen kann. Und helfen will.«

      Hendrik sah aus dem Fenster und dachte nach. Die Felder der Wetterau zogen an ihnen vorbei. Der Sonnenschein wurde immer wieder von Wolken unterbrochen, die riesige Schattenrisse auf die Stoppelfelder warfen. Ja, jedem Menschen wurden Schatten in sein Leben geworfen. Hendrik wusste, dass Richards Eltern bereits tot waren, von den Hintergründen ahnte er nichts. Er schrieb auf seinen inneren Notizzettel, Richard bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Die Umstände mussten passen für solch ein Gespräch, und keine dritte Person sollte dabei sein.

      »Was ist denn mit der Frau aus Straßburg? Woher wisst ihr überhaupt von ihr?«, fragte Hendrik.

      »Mein junger Kollege hier«, Richard zeigte auf Pascal Simon, »beherrscht die französische Sprache sehr gut. Sein Großvater stammt aus Toulouse. Ich habe ihn gebeten, mit der Police national in Straßburg Kontakt aufzunehmen. Und tatsächlich haben die dort einen ungelösten Mordfall. Friederike Meyer, 52 Jahre alt. Sie wurde in einem Hafenbecken gefunden. Pascal hat den Bericht der französischen Kollegen bekommen, er wird uns nachher alles erläutern.«

      »Okay. Und wer ist bei der Besprechung heute dabei? Ich meine, außer uns?«

      »Die Gastgeberin, Kriminaloberkommissarin Sandra Prager, ihr Chef wahrscheinlich nicht, er ist auf einer Hochzeit eingeladen, und dann aus Weimar Kommissar Täntzer und Siggi, das war’s.«

      »Hm, reicht ja auch. Und was ist meine Aufgabe dabei?«

      »Du bist der Experte, quasi eine Art Vor-Gutachter, der erklären soll, wie die Morde zusammenhängen könnten. Dabei habe ich zwei Bitten an dich.« Richard zögerte.

      »Ja?«

      »Erstens solltest du bitte nicht sagen, dass die Idee, zwischen den Morden könnte eine Verbindung bestehen, von dir stammt. Das würde der Glaubwürdigkeit der Theorie schaden. Also … bitte nicht falsch verstehen, aber dieser Ansatz muss von einem Polizisten kommen.«

      »Okay, von wem? Von Siggi?«

      »Nein, von mir. Es muss ein im Dienst befindlicher Polizeibeamter sein.«

      Hendrik nickte. »Gut. Und zweitens?«

      »Bitte sprich, wenn es um eine mögliche Serientat geht, immer im Konjunktiv. Könnte sein … eventuell … es ist anzunehmen, dass … und so weiter. Jeder unbewiesene Zusammenhang muss bei der Polizei als Szenario gelten. Wir müssen unbedingt Hypothesen von Fakten unterscheiden, selbst wenn einer von uns maximal von seiner Hypothese überzeugt ist. So ist unsere Arbeitsweise. Verstehst du?«

      »Klar, kein Problem.«

      Richard schien zufrieden zu sein. Simon bog am Gambacher Kreuz auf die A 45 ab.

      »Richard, wie ist das eigentlich, glaubst du an meine Theorie oder nicht?«

      »Ehrlich?«

      »Ja, bitte.«

      »Nein, ich glaube nicht daran. Trotzdem möchte ich dir die Gelegenheit geben, deine Meinung kundzutun, für deine Überzeugung einzutreten. In guter alter Voltaire-Tradition.«

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