Goetheherz. Bernd Köstering
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Hendrik beugte sich zu seinem Freund hinüber. »Hör mal, Richard«, flüsterte er. »Hat Pascal Simon eigentlich immer diese komische rote Mütze auf?«
Richard grinste. »Immer! Sie wärmt seinen Kopf und dann kann er besser nachdenken.«
Sie verließen den Gießener Ring an der Ausfahrt Schiffenberger Weg und bogen kurze Zeit später links ab in die Ferniestraße. Hendrik war guten Mutes, denn er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was ihn an diesem Tag erwartete.
Kriminaloberkommissarin Prager war eine sportliche Mittvierzigerin mit einer blonden Kurzhaarfrisur. Extrem kurz, wie Hendrik bemerkte. Sie verhielt sich sehr höflich, dennoch merkte er, dass ihrem Auftreten eine Bestimmtheit innewohnte, die wenig Widerspruch duldete. Sie holte die drei am Empfang ab, und Hendrik konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen ihr und Richard eine gewisse Spannung lag. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
»Ich habe eine kleine Überraschung für euch«, sagte sie, während sie vorausging. »Julian Täntzer hat seinen Chef mitgebracht, besser gesagt, sein Chef hat es für nötig gehalten, ihn zu begleiten. Kriminaldirektor Germer.«
Im ersten Stock angekommen, öffnete sie die Tür zum Konferenzzimmer. Bevor Hendrik überhaupt erfasst hatte, wer alles anwesend war, wies Sandra Prager ihm einen Stuhl zu und rief in den Raum: »Ich denke, wir nehmen alle Platz zur Vorstellungsrunde und legen danach gleich los. Wir wollen ja an einem Samstag keine Zeit verschwenden.«
Hendrik schaffte es soeben noch, Siggi zuzuwinken, dann saß er schon zwischen Richard und einem ihm unbekannten jungen Mann mit blassem Gesicht.
»Ich bin KOK Sandra Prager, seit 18 Jahren im Polizeidienst. Ich wurde gebeten, heute als Gastgeberin zu fungieren, damit die Reisekosten einigermaßen gleichmäßig auf die Präsidien verteilt werden. Wenn keine Einwände bestehen, übernehme ich auch die Sitzungskoordination.«
Hendrik registrierte mit der ihm eigenen Art der sprachlichen Analytik, dass sie »Sitzungskoordination« gesagt hatte und nicht »Sitzungsleitung«. In Anbetracht der Tatsache, dass ranghöhere Kollegen am Tisch saßen, schien das sehr umsichtig.
Sandra Prager wandte sich nach rechts. »Richard, machst du bitte weiter?«
»Ja. Richard Volk, Kriminalhauptkommissar, K11 im Präsidium Frankfurt.«
»Danke. Herr Wilmut?«
»Ach so, ja, Dr. Hendrik Wilmut, Literaturdozent an der Universität Frankfurt, Forschungsgebiet Johann Wolfgang von Goethe, sein Leben und seine Frauen.«
Die Blicke aus der Runde gaben ihm zu verstehen, dass er wohl etwas übertrieben hatte. Vielleicht hätte er das mit den Frauen weglassen sollen. Zu spät, die Worte hatten seinen Mund verlassen und er konnte sie nicht mehr zurückholen.
»Danke, Herr Dr. Wilmut. Julian?«
Der junge Mann neben Hendrik spielte nervös mit seinem Kugelschreiber. »Kriminalkommissar Julian Täntzer. Seit acht Jahren im Polizeidienst, seit zwei Jahren in der Kriminalpolizeistation Weimar.«
Hendrik konnte sich nicht dagegen wehren, Täntzer mit dem Begriff »Milchgesicht« zu assoziieren.
Siggi übernahm direkt. »Siegfried Dorst, pensionierter Kriminalhauptkommissar aus Weimar. Richard Volk und ich kennen uns schon lange und haben mehrere Fälle zusammen bearbeitet. Wegen der Personalknappheit in seiner Abteilung und der Hypothese einer Mordserie hat er mich gebeten, eine vorläufige Tathergangsanalyse zu erstellen.«
Richard hob kurz die Hand. »Ich darf ergänzen, dass Siegfried Dorst früher beim BKA gearbeitet hat und am Aufbau der Abteilung ›Operative Fallanalyse‹ beteiligt war.«
Der etwa 60-jährige Mann neben Siggi nickte anerkennend. Er hatte eine hohe Stirn und trug eine übergroße Tellerbrille. »Ich bin Hans Germer und leite die Kriminalpolizeiinspektion Jena.«
»Danke, Herr Kriminaldirektor«, sagte Sandra Prager. »Pascal?«
»KK Pascal Simon, 29 Jahre alt, ich arbeite in Frankfurt im K11 für Herrn Volk.«
»Gut, danke, dort drüben steht Kaffee, bitte bedienen Sie sich. Die Toiletten befinden sich links den Gang hinunter. Haben Sie Fragen zur Organisation?«
Alle schüttelten den Kopf, und Sandra Prager sprach weiter: »Wir haben aktuell fünf Todesfälle, die bisher unabhängig voneinander bearbeitet werden. Vier davon sind inzwischen zu Mordfällen erklärt worden, einer wurde als Selbsttötung eingeordnet.«
Hendrik hob die Hand. »Aber …«
»Langsam, Herr Dr. Wilmut, Sie bekommen noch genügend Gelegenheit, Ihre Sicht der Dinge zu erläutern. Erst einmal wollen wir uns alle auf einen gemeinsamen Wissensstand bringen.«
»Äh, ja, natürlich!« Hendrik atmete tief durch. Er musste seine Emotionen im Zaum halten.
»Richard … also KHK Volk hat die Hypothese entwickelt, dass die fünf Fälle miteinander verknüpft sein könnten. Dazu später mehr. Zunächst wird der jeweils zuständige Ermittler seinen Fall vorstellen. Julian … Kollege Täntzer, fängst du bitte an?«
»Gern.« Julian Täntzer öffnete eine Akte und begann, vorzulesen. Sein Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren. »Wilhelmine Gertrude Becker, 77 Jahre alt, geschieden, drei Kinder, vier Enkelkinder, wohnhaft in Jena, Talstraße 122. Sie befuhr mit ihrem PKW Modell Škoda Fabia am Mittwoch, 8. Oktober gegen 10.45 Uhr die B 7 stadtauswärts in Richtung Isserstedt. In einem Waldstück, dem Isserstedter Holz, kam sie in der Nähe der sogenannten … Zigeunerquelle – sorry, das Ding heißt nun mal so – rechts von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Sie verstarb an der Unfallstelle. Da es sich um eine kerzengerade Strecke handelt und keinerlei Bremsspuren zu erkennen waren, übernahmen wir die Ermittlungen.« Er sah in die Runde.
»Wie waren die Straßenverhältnisse?«, fragte Sandra Prager.
»Trocken, nur wenig Laub, nichts Auffälliges.«
»In welche Himmelsrichtung fuhr sie?«, fragte Pascal Simon.
»In Richtung Westen. Blendende Sonne können wir also ausschließen. Außerdem sind die Bäume dort noch stark belaubt und bilden ein Blätterdach.«
Simon nickte.
Täntzer setzte seinen Bericht fort: »Die Obduktion ergab keine Verletzungen, die ihr vor dem Unfall zugefügt worden sein könnten. Die Blutprobe ergab jedoch interessante Ergebnisse: kein Blutalkohol, keine Drogen, jedoch eine mittlere Konzentration an Temazepam. Wir gehen davon aus, dass Frau Becker die K.-o.-Tropfen kurz vor ihrer Fahrt in ein Getränk gemischt wurden, wodurch sie dann die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlor. Von ihrem Ex-Mann erhielten wir die Telefonnummer ihrer besten Freundin. Sie hatte Frau Becker am Tag ihres Todes nicht getroffen, nannte uns aber ihr Stammcafé. Die Befragung des Personals ergab, dass Frau Becker direkt vor dem Unfall in eben diesem Café war, und zwar allein. Laut Aussage der Bedienung war sie zwischendurch auf der Toilette. Vermutlich hat ihr währenddessen jemand die K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt, die übliche Vorgehensweise. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg nach Isserstedt, um im dortigen Handelshof einzukaufen. Laut ihrer Freundin fuhr sie dort regelmäßig hin.«