Goetheherz. Bernd Köstering
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Es war 7 Uhr am Samstagmorgen, als Dr. Bergen mit der Obduktion von Marianne Schmidt begann. Er hatte sich einen jungen, wissbegierigen Kollegen dazugeholt, denn eine Obduktion musste – sollte sie als gerichtsverwertbar gelten – von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt werden. Zunächst untersuchte Bergen die Hautoberfläche des Leichnams ausführlich Zentimeter für Zentimeter. Sein Tablet lag neben ihm, er diktierte alle Befunde direkt in das Spracherkennungsprogramm. So weit keine Unregelmäßigkeiten, keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod. Dann öffnete er den Mundraum des Leichnams. Dort steckte etwas zwischen den Zähnen: ein Fremdkörper. Dr. Bergen nahm eine Pinzette, justierte seine Arbeitslampe und griff nach dem unbekannten Gegenstand: ein dünner Holzspan, etwa drei Zentimeter lang. Er legte das Fundstück auf einen Objektträger und betrachtete es unter dem Mikroskop. Helles Holz, Buche, Eiche oder Ähnliches, keine Besonderheiten. Doch was machte ein Stück Holz im Mundraum der Frau?
Nach einer kurzen Diskussion mit seinem Kollegen entschied er, den Leichnam ins Röntgenlabor zu fahren. Gern hätte er eine CT-Aufnahme ihres Kopfes gehabt, um sich das Innere schichtweise anzusehen. Das konnten sie jedoch nur mit einer MTA bewerkstelligen und den Wochenenddienst wollte Bergen nicht dafür beanspruchen. Als er die Röntgenaufnahme am Schaukasten befestigte, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht zu trauen. Seinem jungen Kollegen schien es ebenso zu gehen. Vom Genick aus zog sich ein dünner Strich quer durch den Kopf bis hin zum Mund. Sie untersuchten erneut die Haut am Hinterkopf, dann wussten sie, wie Marianne Schmidt ums Leben gekommen war. Schon war Dr. Bergen versucht, zum Telefon zu greifen, doch schnell erinnerte er sich selbst daran, die Obduktion vorschriftsgemäß abzuschließen, bevor er sich ein Urteil erlaubte. Er öffnete den Körper, entnahm der Reihe nach alle inneren Organe, sein Kollege wog sie, begutachtete sie und legte sie zurück in den Leichnam. Die Ergebnisse dokumentierte Bergen über seinen Tablet-Computer. Zwei Stunden später griff er zum Telefon.
»Bergen hier, guten Morgen, Herr Volk!«
»Doktor, so früh schon? Wann haben Sie denn angefangen?«
»Um 7 Uhr, für zwei Obduktionen braucht man schon mal den ganzen Tag. Und zur Sportschau möchte ich zu Hause sein.«
»Klar«, sagte Volk. »Ich danke Ihnen. Und?«
»Den ersten Situs habe ich obduziert, Frau Marianne Schmidt. Sie wurde erschossen.«
»Waaas? Sicher?«
»Ganz sicher. Sie wurde durch einen Genickschuss getötet, schwer zu erkennen, schon gar nicht am Tatort. Der Schuss wurde im Genick angesetzt, direkt am Haaransatz, ich habe es bei der äußerlichen Inspektion selbst erst nicht bemerkt. Laut Schusskanal, den ich im Röntgenbild sehe, ist das Projektil durch den Mund wieder ausgetreten. Falls das Absicht war, muss es ein Profi gewesen sein.«
»Puh!«
»Den Durchmesser des Schusskanals konnte ich nicht exakt bestimmen, dazu bräuchte ich ein CT, wahrscheinlich Kaliber .22.«
»Aha. Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Sebastian Bergen schüttelte den Kopf, obwohl Volk das nicht sehen konnte. »Nein, nach fast zwei Tagen ist das nicht mehr möglich, da sollten wir den Kollegen vertrauen, die vor Ort waren. Aber ich habe den Mageninhalt untersucht, Rindfleisch, Kartoffeln und Erbsen.«
»Sie hat also zu Mittag gegessen?«
»Genau.«
»Verdammt, dann hat der Mörder ihr die Zahnbürste in die Hand gedrückt, um uns glauben zu machen, sie sei am Morgen zu Tode gekommen.«
»Sag ich ja, Profi. Und übrigens, Herr Volk, zwischen Frau Schmidts Backenzähnen linksseitig fand ich einen schmalen Holzspan, Buchenholz, etwa drei Zentimeter lang. Was das zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen.«
Stille. Bergen wartete. »Herr Volk?«
»Ja, ich bin noch da. Wissen Sie, ich habe eine … Theorie. Der Täter hat ihr vor dem Schuss ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt, um mehr Platz für den Austritt des Projektils zu haben. Damit wurde eine sofort erkennbare Austrittswunde vermieden und die Wahrscheinlichkeit, eine Fremdeinwirkung zu entdecken, stark reduziert.«
»Klingt plausibel.«
»Das heißt, wir müssen am Tatort nach dem Projektil suchen, das muss ja irgendwo eingeschlagen sein. Bisher sind wir ja von einem natürlichen Tod ausgegangen.«
»Ich sehe, nicht nur der Täter ist ein Profi, sondern auch der Ermittler!«
Richard Volks Lachen klang durch die Leitung. »Danke. Sie melden sich bitte, wenn Sie mit Elisabeth Müller so weit sind?«
»Klar. Ach, eine Frage noch: Wie haben Sie den Oberstaatsanwalt eigentlich davon überzeugt, einer Obduktion zuzustimmen?«
»Ich habe ihn gefragt, ob er bei Prostatabeschwerden zu einem Orthopäden gehen würde.«
Dr. Bergen brummte zufrieden und legte auf.
*
Wilhelmine Becker
Frankfurt a. M., Samstag, den 11. Oktober, nachmittags
Die Herbstsonne hatte erstaunlich viel Kraft und brannte auf den Main und das Ausflugsschiff »Johann Wolfgang von Goethe« nieder. Hendrik Wilmut vermisste eine Kopfbedeckung. Siegfried Dorst, von seinen Freunden Siggi genannt, schien es ähnlich zu gehen. Er hatte besonders zu leiden, da er die Haare als natürlichen Sonnenschutz komplett verloren hatte. Seine glänzende Kopfhaut war empfindlich gegen zu viel UV-Strahlung. Er hatte sich so gesetzt, dass Richard Volks breiter Körper ihm Schatten spendete. Richard war der einzige der drei Freunde, der vorgesorgt hatte. Er trug eine Baseballkappe.
Sie waren am Eisernen Steg an Bord gegangen und fuhren Richtung Westen. Hendrik und Richard als Frankfurter Lokalmatadoren hatten Siggi überredet, einen »Sauer Gespritzten« zu probieren, Apfelwein mit Sprudelwasser. Siggi sah damit nicht glücklich aus. Gerade hatten sie den Westhafen passiert, der kein Hafen mehr war, sondern ein Wohngebiet für Gutbetuchte.
»Jungs, ich muss mich entschuldigen!«, sagte Hendrik. »Ich dachte, Hanna wäre schon so weit, aber …«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen«, antwortete Siggi. »Hannas Gesundheit geht vor. Wahrscheinlich weiß keiner von uns wirklich, wie sie sich fühlt. Ich hatte trotzdem Lust auf ein Bier mit euch beiden Chaoten!«
Das ist Freundschaft, dachte Hendrik.
»Ich soll euch übrigens von Ella grüßen«, ergänzte Siggi. »Sie hatte eine anstrengende Arbeitswoche, deswegen ist sie in Weimar geblieben. Ich als Rentner habe es da einfacher.« Er grinste. »Außerdem meinte sie, wir sollten mal einen richtigen Männerabend machen.«
»Tolles Mädel!«, sagte Richard.
»Und hier ist ein Geschenk für Hanna.« Siggi überreichte Hendrik eine Pralinenschachtel.
»Vielen Dank!«
»Ella bat mich, zu fragen, wie es Hanna geht, sie hat ein paarmal versucht, sie anzurufen …«