Nacht im Kopf. Christoph Heiden

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Nacht im Kopf - Christoph Heiden

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das dreckige Geschirr abgespült, das Leergut zum Pfandautomaten gebracht und den Plastikmüll in der gelben Tonne entsorgt; er hatte das Wohnzimmer gesaugt und die Sofakissen dekorativ auf der Couch arrangiert; er hatte die Bilderrahmen an der Wand vom Staub befreit – links das Porträt seiner verstorbenen Eltern und ein Schnappschuss von Bibi, rechts seine Galerie alter Kinoplakate. In dem Hochgefühl der Liebe hatte er mit seiner Handykamera die Küche und die Wohnstube gefilmt und all das kommentiert, was ihm vor die Linse geraten war. Der neue Kühlschrank, Bibis Fressnäpfe, die Yuccapalme und sein DVD-Regal, wobei er Mona jeden seiner Lieblingsfilme mit einem Extrakommentar präsentiert hatte. Die jeweils dreiminütigen Videos hatte er ihr dann per Whatsapp gesandt.

      Er legte die fast leere Chipstüte auf die Armlehne und strich die Krümel von Bibis Rücken. Ein Kerl, den er nicht kannte, trat vor die Kneipe und rauchte eine Zigarette. Wenig später trabte das Geburtstagskind samt Gattin an. Es musste mittlerweile kurz nach 20 Uhr sein. Ehe Krügers eintraten, veranstalteten sie einen Affentanz, wer wem die Augen abschirmen durfte. Garantiert spielte Frank Lewin einen dieser berühmten Happy-Birthday-Songs, und alle lagen sich in den Armen, als hätten sie einander unheimlich lieb.

      In dem Moment, in dem sich hinter Krügers die Tür schloss, machten sich seine Kniegelenke bemerkbar. Behutsam, sodass Bibi sich nicht gestört fühlte, hob er das linke Bein und positionierte es auf einem Hocker unterm Fenster. Vor wenigen Monaten hatte er sich noch ausgemalt, wie er den Kuxwinklern seine neue Freundin vorstellte. In seinen Fantasien hatte er zu ihr gesagt:

      »Komm, lass uns was trinken gehen.«

      »Was trinken?«, wiederholt sie ungläubig.

      »Na, in meine Stammkneipe.«

      »Ihr habt hier ein Lokal?«

      »Gleich gegenüber«, antwortet er lachend. »Abends treffen wir uns immer dort.«

      Als er mit ihr durch die Eingangstür schreitet, offenbart die Meute ein erstauntes Gesicht, dazu ein kollektives »Oh« und »Ah«. Lässig schmeißt er zur Begrüßung eine Lokalrunde. Mona integriert sich ohne jede Scheu bei den anderen Damen, amüsiert sich, tätschelt ihnen zwanglos die Schultern, und die Herren beglückwünschen ihn hinter vorgehaltener Hand für so eine Granate.

      Aber seine Fantasie hatte keine zwei Wochen überlebt. Nachdem ihre Reaktion auf seine Videos eher verhalten ausgefallen war, hatte er ihr täglich neue Liebesbotschaften geschickt. Diesen Film musst du gucken. Schau mal, Bibi kann Kunststücke. Und ich habe 5 Kilo abgenommen. Nur für dich. Am Ende hatte sie ihn blockiert und sein Sauberkeitsdrang war wieder aufs alte Niveau geschrumpft.

      Langsam zeigten die Tabletten Wirkung. Er verrückte sein Bein ein wenig, lehnte sich zurück und kraulte Bibi den Nacken. Mittlerweile war die Dorfstraße fast dunkel, das Kneipenlicht leuchtete warm und einladend und aus seiner Anlage tönte die Abspannmusik der »Schock-Geschichten«. Er langte in die Chipstüte und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern. Seine Annahme, dass die Geburtstagsfeier ein explosives Abendprogramm bieten würde, war wohl voreilig gewesen. Pawels Lider sanken tiefer und tiefer, und Bibi erfüllte das Wohnzimmer mit ihrem Schnurren.

      Das Geschrei auf der Straße ließ ihn die Augen öffnen – ohne Schreck oder Herzrasen, vielmehr so, als wäre er statt am Fenster vor dem Fernseher eingeschlafen und von einem überlauten Werbeblock geweckt worden. Mit trägem Blick sah er im Eingangsbereich der Kneipe sechs Gestalten. Eine Person kroch auf allen vieren, während eine andere ihr in den Hintern trat; der Rest stand dicht daneben und applaudierte. Pawel wischte sich über die Augen, weil ihm die Szene geradezu surreal erschien. Als die Gestalten über die Straße blickten, rutschte er in greller Panik vom Sessel. Er fand die Fernbedienung, schaltete die Glotze ab und stellte sich im Dunkel seiner Stube tot.

EIN LIEBLICHER TAG

      19. Oktober 2019

      9.00 Uhr

      »Hast du ihn seit damals gesprochen?«

      »Ich denke, ein-, zweimal«, sagte Anna.

      »Wow, best friends, würde ich behaupten.« Mike umklammerte das Lenkrad in der fünf vor eins Position, sodass seine Unterarme beidseitig auflagen. Ein Stirnband bändigte seine Haare und gab ihm den Look eines Tennisspielers aus den 80ern, dessen Bauchansatz verriet, dass er seine Karriere längst beendet hatte. Über einer Jeans trug er ein offenes Karohemd, darunter ein T-Shirt mit dem Aufdruck eines Horrorfilms. »Die lebenden Leichen des Dr. Diabolo«. Verwaschen, verspielt, vertraut. Nach einer Bedenkminute fragte Mike:

      »Willst du ihn nicht vorher anrufen?«

      »Nee, ich überrasch ihn lieber.«

      »So liebe ich dich: immer mit der Tür ins Haus.«

      Anna rang sich ein Grinsen ab und wandte den Blick zum Fenster. Unter den Baumkronen streckte sich die Gollwitzer Chaussee gen Norden, schnurgerade und ohne Gegenverkehr. Ein blauer Himmel blitzte zwischen dem Herbstlaub hindurch; Schatten fächerten im Stakkato über die Windschutzscheibe. In schwarze Folie eingepackte Strohballen türmten sich auf den Feldern, die Silhouetten einer Herde Rehe zerschnitten den Horizont. In den dreieinhalb Jahren, die Anna nicht mehr hier gewesen war, hatte die Welt sich gewandelt, zu einer mit Licht und Farben und Musik. Sie schielte nach links und sah Mike mit den Handballen aufs Lenkrad trommeln. Aus den Boxen schnurrte die Playlist, die sie gemeinsam zusammengestellt hatten: Soulklassiker wechselten mit Britpop und Post-Punk.

      Sie zog ihren Rucksack aus dem Fußraum, öffnete ihn und zerrte einen Hefter hervor. Darin unzählige Dokumente, blauer Kugelschreiber auf Musterbögen, Unterschrift gefolgt von Unterschrift. Niemals zuvor hatte sie sich mit einer Erbschaft auseinandersetzen müssen.

      »Das hätte man auch per Post erledigen können«, sagte Mike, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.

      »Kann sein«, erwiderte Anna. »Aber ich muss das Haus ein letztes Mal sehen.«

      »Und was hat er damit zu tun?«

      »Ich will nicht allein hinfahren.«

      »Ich bin doch da.«

      »Du bist damals nicht dabei gewesen.«

      »Stimmt, ich hab den Klub geputzt.«

      »Das klingt, als wärst du beleidigt.«

      »Im Gegenteil.« Er spreizte einen Zeigefinger vom Lenkrad. »Um ehrlich zu sein, bin ich froh, dich erst später kennengelernt zu haben.«

      »Hey, wir kannten uns schon vorher.«

      »Ja, allerdings nicht so.«

      Jetzt lächelte er gegen die Windschutzscheibe, und Anna schämte sich dafür, dass sie kaum niedergeschlagen war, dass ihr Leben weiter in den richtigen Bahnen verlief, ihre Arbeit im Jugendklub, ihre Beziehung, das große Drumherum, schämte sich dafür, den Tod ihrer Familie nicht zu betrauern.

      »Keine Sorge«, sagte sie schließlich, »du wirst ihn mögen.«

      »Diesen Willy Urban?«

      »Ja. Er ist cool.«

      »Cool?« Mike lachte auf, wobei er sich die Linke vor den Mund hielt. Seitdem ihm einer seiner Eckzähne abgebrochen war, offenbarte jedes Lachen, jedes Gähnen eine schwarze Lücke. »Nach dem, was du mir erzählt hast, würde ich ihn eher sonderbar nennen.«

      »Cool,

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