Nacht im Kopf. Christoph Heiden

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Nacht im Kopf - Christoph Heiden

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sein bestechendster Charakterzug.«

      »Auf diese Seite freue ich mich besonders.«

      »Dann hoffe ich mal, dass er einen sitzen hat.«

      »Bisschen früh, oder?«

      »Dahingehend ist Willy sehr flexibel.«

      Mike lenkte seinen Ford Taurus von der Gollwitzer Chaussee auf einen Feldweg und sofort kroch Anna die Nervosität in die Glieder. Sie zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack, trank einen Schluck und dachte gleichzeitig an die Bierpullen, mit denen Willys Auto zugemüllt gewesen war. Als sie wegen eines Schlaglochs ein wenig Wasser verschüttete, kam ihr die Erinnerung an Willys Ausraster hoch; in seinem Zorn hätte er seinen Wagen beinahe gegen einen der Obstbäume gesteuert. Sie schraubte die Flasche zu und konzentrierte sich auf die Musik, doch belebte das nur neue Bilder: Willy in seinem Opel, singend oder im Gespräch mit seiner toten Frau.

      »Ist es das?«, rief Mike.

      »Ja, eindeutig.«

      »Wow, ein echtes Backsteinhaus.«

      »Was hast du denn erwartet?«

      »Durchaus was Finsteres.«

      Entgegen ihrer Annahme waren die Fensterläden und die Haustür nicht farblos, sondern erstrahlten in einem hellen Grün. An der Fassade reihten sich Rosensträucher, oberhalb der Eingangsstufen hing sogar ein neuer Briefkasten. Der Opel in der Einfahrt war allerdings noch derselbe, und allein dieser Anblick verdeutlichte ihr, wie fern das hiesige Leben von ihrem eigenen zu sein schien, fern von Berlin und ihrer Arbeit, von dem ganzen Treiben ihrer großstädtischen Existenz. Im Grunde so weit weg, dass es nur logisch war, das Erbe ihrer Zieheltern auszuschlagen.

      Mike parkte den Taurus hinter Willys Astra, schnallte sich ab und bot ihr an, im Auto zu bleiben. »Ich kann mir auch ’n nettes Café suchen.«

      »Da wirst du enttäuscht werden.«

      »Irgend’ne Frittenbude findet sich immer.«

      »Nicht in Gollwitz. Hier kräht kein Hahn.«

      »Okay, dann warte ich eben im Auto.«

      »Seit wann bist du so ’n Schisser?« Mit einem Grinsen öffnete Anna die Wagentür und stieg aus.

      Sie rollte die Ärmel ihres Pullovers runter, stemmte die Hände in die Taille und blickte über die angrenzenden Felder. Ein grünes Band spannte sich von Ost nach West, und Mike fragte sie, was hier gesät worden sei. Futterklee, antwortete Anna und war selbst über ihre schnelle Reaktion erstaunt. In dem Glauben, Willy lauere hinter einem der Fenster, wandte sie sich dem Haus zu. Sicherlich war ihm in den letzten Jahren nicht die Bude eingerannt worden; während ihrer gemeinsamen Zeit hatte er sich kaum als großer Philanthrop präsentiert. Sie winkte in Richtung Haus, aber Willy machte keine Anstalten, sich zu zeigen.

      Mike versuchte, seine Unsicherheit mit einer gelangweilten Miene zu kaschieren. Leider funktionierte diese Taktik nicht mal bei ihren Kindern und Jugendlichen im Klub. Sie strich ihm über den Arm und er blinzelte nervös.

      Noch bevor Anna an die Tür klopfte, erfasste sie eine abstruse Vorstellung: Was, wenn Willy irgendetwas zugestoßen war, er womöglich im Krankenhaus lag oder – und dieser Gedanke ließ ihren Atem stocken – auf dem Gollwitzer Friedhof? Mit seinen 73 war sein Alter fünf Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Männer, sagte sie sich. Andererseits hob ein fetter, cholerischer Alkoholiker nicht unbedingt den Schnitt. Anna hämmerte heftig gegen die Tür in der Hoffnung, den Gedanken damit zu verscheuchen.

      »Vielleicht ist er nicht da«, flüsterte Mike.

      »Wo soll er schon sein?«

      »Vielleicht Freunde besuchen.«

      »Er hat keine Freunde.«

      »Oder er ist im Urlaub.«

      »So was kennt Willy nicht.«

      »Na ja«, sagte Mike. »Bestimmt hockt er nur aufm Klo.«

      Anna horchte an der Tür, hörte nichts und zerrte einen Schlüssel aus der Jeans.

      »Wo hast du den denn her?«, wollte Mike wissen.

      »Hat mir Willy geschenkt.«

      »Und das hat er nicht vergessen?«

      Anna zuckte die Achseln und schob den Schlüssel ins Schloss.

      In einem Anflug von Erstaunen registrierte sie, dass sich nicht nur das Äußere des Hauses verändert hatte: Die Diele war neu tapeziert worden und auf der Telefonbank lagen saubere Sitzpolster. Als sie darunterschaute, kniff sie enttäuscht die Lippen zusammen. Statt der Pantoffeln, die sie damals in Willys Haus getragen hatte, stand dort ein Korb voller Latschen, an denen noch die Preisschilder klebten.

      Sie rief erneut nach Willy, aber aus Küche und Wohnstube kam keine Antwort; vielmehr verursachte das Gemäuer eine Stille, die man allenfalls unter den Dächern alter Häuser vernahm. Still und doch nicht geräuschlos, eher ein schwaches Surren, das Gebälk und Gemäuer zu erzeugen schienen. Behutsam öffnete Anna die Wohnstube, trat ein und winkte Mike hinter sich her.

      »Willy?«, flüsterte sie aus Sorge, ihn zu verschrecken. »Bist du hier?«

      Auch in der Stube war alles anders oder genauer gesagt alles neu. Ein heller Anstrich verlieh dem Raum Größe und die Fenster wurden von fliederfarbenen Vorhängen geschmückt. Zwischen Sofa und Fernseher streckte sich ein Teppich, der für Willys Verhältnisse viel zu flauschig, viel zu einladend und vor allem viel zu sauber war.

      »Er hat wohl auch seine ruhigen Momente«, sagte Mike und deutete zur Wand. Dort, wo einst Notizen, Fotos und Zeitungsartikel die Tapete verdeckt hatten, hing ein gerahmtes Puzzle; das Motiv eine Meereslandschaft mit Korallen, Fischen und einem riesigen Wal.

      »Sieht ihm gar nicht ähnlich«, erwiderte Anna.

      »Puzzeln soll gegen Demenz helfen.«

      »Passt trotzdem nicht zu ihm.«

      »Vielleicht wohnt er gar nicht mehr hier.«

      Anna runzelte die Stirn, als hätte Mike gerade für ein Verbot von Horrorfilmen plädiert. Oder ihr Freund lebe inzwischen mit jemandem zusammen, setzte er nach, was sie noch abstruser fand. Wortlos betrachtete sie ein Bücherregal, an das sie sich ebenso wenig erinnern konnte.

      »Der Herr steht eindeutig auf Krimis.« Mike ließ einen Finger über die Einbände wandern. »›Goldfinger‹, ›Mondblitz‹ und … Ach, guck an.« Er tippte auf einen Reiseführer für Italien. »Von wegen er macht keinen Urlaub.«

      Anna, zutiefst verunsichert, begab sich in den rückwärtigen Teil der Wohnstube. An der Wand stand das Küchenbüfett, dessen unpassender Platz ihr wenigstens vertraut war. Auf der Arbeitsfläche der Plattenspieler, daneben ein Stapel Schallplatten, beides ohne ein Körnchen Staub. Willy musste eine Frau kennengelernt haben – anders konnte sie sich diese Sauberkeit, diese ganzen Veränderungen nicht erklären. Sie ging in die Hocke und linste durch die Glastüren. Die Flasche »Bushmills«, die Willy am Tag ihrer Abreise angebrochen hatte, fand sich natürlich nicht im Schrank.

      »Ich

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