Odersumpf. Marina Scheske
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Wie soll ich mich denn wehren, Urvater? Ich kann doch keine Flinte nehmen und ihn erschießen, dann komme ich in den Knast. Rein juristisch gesehen hat er mir nichts getan! Jeder Richter würde das so beurteilen und auch jeder Bürger.
Wenn sie jemanden schikanieren, um ihn zu vertreiben, machen sie das verdeckt, in aller Stille.
Sie können ihren Widersachern sehr wohl das Leben zur Hölle machen, ohne auch nur ein einziges Gesetz zu übertreten. Sie sitzen auf ihren Höfen, kaufen alles Land, was sie kriegen können, und instruieren ihren Nachwuchs.
Ihre Kinder wachsen auf im elitären Bewusstsein einer Heilslehre, die jeden, der anders als sie ist, rigoros aus der Gemeinschaft ausschließt. Kalt, gnadenlos. Die würden dich im tiefsten Winter irgendwo nackt aussetzen und wären davon überzeugt, dass sie das einzig Richtige tun. Wie weit ist es dann noch bis zur Gaskammer?
Konrad ging ins Bad und hielt den Kopf unter die Dusche. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. In der Küche stand noch der Wein, er setzte sich an den Tisch und griff zur Flasche. Hastig wie ein Säufer trank er und dachte dabei, das ist auch keine Lösung. Sich besaufen, wenn man wütend ist, das bringt nichts, davon wird es noch schlimmer.
»Nein, Urvater«, flüsterte er, »ich werde nicht schießen. Ich bin nicht wie du, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Du hast doch mal gesagt, es stehe in der Bibel. Ich bin nicht wie du, wir leben in einer anderen Zeit. Aber ein Teil von dir, von dem, was du mir erzählt hast, ist immer bei mir. Und ich weiß, es ist wertvoll, es ist so kostbar wie ein Schatz. Es ist in mir und deshalb wollte ich dieses Land, diesen Garten und das Haus besitzen. Nicht um so zu werden wie du. Ich wollte etwas Bleibendes haben, weil alles so flüchtig und schnell geworden ist. Ich wollte mir das zu eigen machen, was du mir vorgelebt hast. Den natürlichen Kreislauf des Lebens. Und die Erde, die ich in meine Hände nehmen kann. Meine Erde, die mich und meine Familie ernährt. Die Erde, für die ich Verantwortung trage.
Und die, die nach mir kommen, sie werden sagen: Das war der Konrad, der erste Wieland, der sich hier angesiedelt hat. Im Herbst 2018, da hat er diesen Nussbaum gepflanzt.
Das hatte er zu Laura gesagt, an jenem ersten Abend in Creywitz. Sie waren trunken vor Glück gewesen, lagen alle vier auf der Wiese und schauten zu den Sternen, die sie nun endlich richtig sehen konnten, weil es so schön dunkel war. So dunkel, wie es in Berlin nie sein konnte.
Laura hatte entgegnet: »Das passt nicht mehr, Konrad, das ist ja das reinste Patriarchat. Konrad Wieland, der Erste! Er hat diesen Baum gepflanzt! Also weißt du!«
Das sei doch nur symbolisch gemeint, hatte er ihr geantwortet, und seinetwegen könne es ja später auch heißen, dass Laura, die erste Frau des Stammes, diesen Baum gepflanzt hatte.
»Das Matriarchat ist gerade dabei, das Patriarchat abzulösen«, hatte sie lachend erwidert und sie hatten sich über die Wiese gekugelt und sich gebalgt. Max und Ronja hatten vor Vergnügen geschrien …
Konrad nahm die Flasche und goss sich den Wein in ein Glas. Nun trank er nicht mehr aus Frust. Seine Gedanken schweiften durch die Welt seiner Kindheit, durch den Garten des Urvaters, wo er etwas suchte. Nicht den Trost der schönen Erinnerung, sondern den Sinn, den Gehalt dessen, was sein Urvater ihm vorgelebt hatte.
Ein kleiner Vogel sitzt still auf Urvaters Arm. Er spricht zu ihm. Er wärmt die Gurkensamen im Mund an, bevor er sie in die Erde legt. Er nimmt einen Mund voll Wasser und wärmt es auf diese Weise an, um damit die kleinen Tomatenpflänzchen vorsichtig zu begießen. Er macht ein Feuer unter den Aprikosenbäumen und bewacht nachts die schwelende Glut, um den Frost abzuwehren.
Konrad sitzt vor dem Bienenhaus. Er hat gelernt, sich so zu verhalten, dass er nicht gestochen wird. Der Urvater spricht vom arbeitsreichen Leben der Bienen, von der Königin und der sinnvollen Hierarchie ihres Volkes.
Sie sitzen im Schatten des Frühapfelbaumes und saugen den frischen Honig aus den Waben, bis nur das Wachs übrigbleibt. Dazu essen sie frisches Weißbrot und trinken Ziegenmilch mit Johannisbeersaft. Der Urvater spricht biblisch vom Land, in dem Milch und Honig fließen.
Eine der größten Sünden im Kanon des Urvaters war die der Verschwendung. Konrad sieht sich, wie er über ein abgeerntetes Getreidefeld geht, gebückt, den Blick nach unten. Ähren stoppeln, Futter für die Hühner aufsammeln, eine mühevolle Kleinarbeit.
Kam ein Fuhrwerk durch die Straße, die nur ein Sommerweg war, also Erde, Modder oder Eis und Schnee, dann rannte er auf Geheiß des Urvaters mit der Schippe hinaus, um die kostbaren Pferdeäpfel aufzusammeln, der beste Dünger für die Erdbeeren.
Mit Korb und Sichel zog er los, um für die Kaninchen Löwenzahn vom Straßenrand zu holen.
Nichts ließ der Urvater umkommen, jeder krumme Nagel wurde wieder glatt geklopft.
Hatte er dieses Verhalten nicht auch bei den völkischen Siedlern beobachtet? Alles wurde verwertet, sie lebten sparsam und möglichst autark. Hatte es sich nicht heimelig angefühlt, als er hörte, dass sie unter Betten schliefen, die gefüllt waren mit den Federn ihrer eigenen Gänse?
Federnreißen im Haus des Urvaters. Eigentlich darf er nicht dabei sein, da sind die Frauen nach altem Brauch unter sich. Sie dulden ihn nur in der Stube, weil er ein Schlafgast ist. Wie so oft übernachtet er beim Urvater, von der Schwiegertochter, seiner Großmutter, liebevoll umsorgt. Urvaters Frau ist gestorben, als Konrads Mutter mit ihm schwanger war. Da auch Konrads Großvater schon seit einigen Jahren tot ist, ist sie zum Urvater gezogen, um ihm »die Wirtschaft zu machen«, wie Konrads Mutter es nennt.
Der Tisch ist voller Federn, an ihm sitzen die Frauen mit hochroten Gesichtern, lachend und schnatternd wie die Gänse, deren weiße Pracht sie flink durch ihre Hände gleiten lassen. Konrad hockt auf der Bank am bullernden Kachelofen, er schaut zu, wie seine Großmutter Eierlikör eingießt. Wenn das Geschnatter gar zu arg wird und von Kuckuckskindern, gehörnten Ehemännern, Sechsmonatskindern und anderen skandalösen Sensationen die Rede ist, dann sagt Großmutter: »Der Fußboden hat Löcher!«
Was das heißen soll, weiß er. Hier sind zwei allzu junge Ohren zu viel in der Stube, seine Ohren. Darum gilt es an diesen Abenden, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Am besten, man kriecht unter den Tisch.
Ging es nicht beim Federnreißen zu wie in einem Geheimbund, weil die Männer nicht dabei sein durften? Und gab es früher nicht noch viel mehr solcher Bräuche, die davon lebten, bestimmte Menschen auszuschließen, so wie es heute die Völkischen machten? Sich einmal ganz besonders fühlen, sich separieren von der Masse.
Er erinnerte sich, wie stolz er gewesen war, als er endlich das blaue Halstuch der Jungpioniere tragen durfte und nun mit einer gewissen, wenn auch diskreten, Verachtung auf die jüngeren Kinder herabschaute, die ohne Halstuch im Sandkasten saßen.
Leute wie Graf machten sich diese zutiefst menschliche Eigenschaft zunutze.
Waren nicht gerade die Menschen, die es nicht geschafft hatten, sich aus eigener Kraft nach dem Zusammenbruch der DDR eine neue Existenz aufzubauen, extrem anfällig für die Ideologie