Odersumpf. Marina Scheske
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Odersumpf - Marina Scheske страница 5
Was hätte Urvater über Grafs Vormachtstellung in Creywitz gesagt und wie hätte er sich ihm gegenüber verhalten? Er war kein Bauer gewesen, sondern ein Eisenbahner, der sich auf seinem Besitz eine kleine Landwirtschaft aufgebaut hatte. Sie ermöglichte es ihm, seiner Familie auch in schlechten Zeiten einen gut gedeckten Tisch bieten zu können. Außerdem verfügte er über eine beträchtliche Fläche gepachtetes Land, um sein Vieh zu ernähren. Der Keller des Hauses barg all die nahrhaften Schätze, eingeweckt oder eingepökelt standen sie in den Regalen. Es duftete nach Äpfeln, die in den Stiegen ganz oben auf den Regalen lagen. In der Abseite lagerten die Kartoffeln. So waren sie abgesichert, komme, was wolle.
Hatte sich nicht auch Urvater ein Leben lang abgeschottet vor der Welt da draußen?
Aus den Tiefen der Erinnerung tauchte jenes Gespräch mit dem Urvater auf, welches Konrads Denken, Fühlen und Handeln nachhaltig beeinflusst hatte. Ehe jedoch die Saat dieser Worte aufging, vergingen viele Jahre.
Urvater breitet den Stammbaum der Familie vor ihm aus, ein großformatiges vergilbtes Blatt aus Büttenpapier, welches er in der Bibel aufbewahrt. Er streicht es vorsichtig glatt, bevor er seine Stimme bedeutungsvoll erhebt und sein Zeigefinger hoch hinauf in die luftige Krone wandert: »Da bist du, Konrad. Und hier, ganz unten, da siehst du unsere Wurzeln. Ein Konrad!« Seine breite Hand tastet fast zärtlich über das Wurzelwerk des mächtigen Baumes.
»Ein Konrad Melchior Wieland, er ist der Erste, von dem wir Kunde hatten. Also ist er der Stammvater unseres Geschlechts. Er wurde 1550 in Franken geboren, dann ist er vermutlich ausgewandert, kam hierher in die Uckermark und erwarb dieses Land. Unser Land, auf dem wir bis heute sitzen. Er starb 1610 und hinterließ seiner Frau und den Söhnen Konrad und Friedrich ein ansehnliches Gut.«
Konrad fragt, wo dieses Gut geblieben sei. Ein Gut, das weiß er, ein richtiges Gut wie das volkseigene Gut am Rande der Stadt, ist viel größer als Urvaters Grundstück.
Auf dem volkseigenen Gut »Frohe Zukunft« gibt es eine Schweinemastanlage, die infernalisch stinkt, eine große Schafherde, Weiden mit schwarzbunten Kühen und vor allem Pferde.
Der Vater seines Freundes ist Kutscher auf jenem Gut und es bereitet Konrad große Freude, wenn er die Jungen mit auf den Bock steigen lässt. Ein Gut, das ist Land ohne Ende, bis zum Horizont wogt das Weizenmeer, blüht der gelbe Raps, steht der Mais wie eine Armee Soldaten.
Urvater räuspert sich gedankenvoll, er nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen.
»Der erste Krieg«, stößt er zornig hervor, »der kam uns teuer zu stehen, den haben unsere Leute nicht nur mit ihrem Leben bezahlt. Als wenn der Blutzoll nicht genug gewesen wäre, pressten sie das Letzte aus uns raus, um Deutschlands Schmach zu tilgen. Die hohen Steuern ruinierten uns. Reparationen musste Deutschland zahlen an die Siegermächte, da ging es an die Substanz. So manches Gut kam unter den Hammer. Von den kleinen Leuten ganz zu schweigen, die hungerten.«
Er hält einen Moment inne, eine steile Falte steht zwischen seinen Brauen. Vorsichtig schlägt er den Stammbaum zusammen und legt ihn zurück in die Bibel.
»Das ist nicht die ganze Wahrheit, Konrad. Man muss sich der Wahrheit stellen. Sie haben den schönen Besitz kaputt gemacht. Die Erben stritten sich und teilten das Gut in vier Hälften. Das war ein großer Fehler. Drei Hälften davon wurden verjuxt und verschwendet! Auch das waren Wielands, auch unser Baum trug faule Früchte. Merk dir, Konrad, nur wenn man an einem Strang zieht, kann man etwas erreichen. Einigkeit macht stark!«
Er bekräftigt seine Worte, indem er mit der Faust auf den Tisch schlägt.
»Den Rest habe ich von meinem Onkel übernommen. 1920, in der schlimmsten Zeit, da war ich dreißig. Die Leute in der Stadt fraßen ihren Dreck, da lernt man zu schätzen, was die eigene Scholle wert ist. Es war nicht leicht. Früher war man mit dreißig Jahren ein Mann, der das Leben schon geschmeckt hatte. Ich hatte einen Beruf, war verheiratet und wir erwarteten unser zweites Kind. Und ich war im Felde gewesen.«
Urvater spricht nie über den Krieg, nicht über den ersten, nicht über den zweiten. »Im Felde gewesen«, das ist alles, was zum Thema Krieg über seine Lippen kommt.
»Es waren schwierige Zeiten. Erst die Weltwirtschaftskrise, dann die Nazis. Kapitalismus, Sozialismus, Nationalsozialismus, Kommunismus! Merk es dir gut, Konrad, alles, was mit ›mus‹ endet, ist schlecht! Diese ganzen Ideologien, sie säen nichts weiter als Neid, Hass und Zwietracht. Ich gebe dir einen Rat, Junge, halt dich da raus. Gehst du in eine Partei, hast du deine Seele verkauft. Du bist kein freier Mann mehr, du musst machen, was die Funktionäre der Partei wollen. Das war früher so und ist heute nicht anders. Schau sie dir an, diese Funktionäre, wer sind sie denn? Schwätzer und Fantasten. Leute, die nichts weiter können als Sprüche klopfen. Wer nichts gebacken bekommt im Leben, der geht in die Politik. So war es und so bleibt es. Bevor der Hitler an die Macht kam, da haben sie sich geprügelt, hier in Friedrichsfeld, die Roten und die Braunen, das ganze Lumpenproletariat. Das konnten sie gut, das war alles, was sie konnten. Parolen schreien, die Wände beschmieren und sich prügeln. Wenn du groß bist, Junge, dann such dir einen Beruf, in dem du ungestört arbeiten kannst. Eine Arbeit, in die dir kein Funktionär reinreden kann. Lerne ein Handwerk oder was Technisches wie dein Vater. Da haben die keine Ahnung von, da kannst du schalten und walten, wie es dir beliebt, und bist ein freier Mann.«
Konrads Vater war Ingenieur im hiesigen Wasserwerk gewesen und Konrad hatte später den Beruf eines Elektrikers erlernt. Keiner aus der Familie war in die SED eingetreten. Hatte Urvaters Einfluss die Familie so nachhaltig geprägt?
Alles, was mit »mus« endet, ist schlecht.
Konrad war fast acht Jahre alt und hatte gerade das erste Schuljahr beendet, als er diesen Satz aus dem Munde des Urvaters hörte. Natürlich wusste er noch nicht, was sich hinter dem Begriff »Ideologie« verbarg. Aber was Urvater sagte, musste wahr und recht sein, weil er der Urvater war. Er sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen, war sein Gesprächspartner an langen Winterabenden, wenn die Großmutter in der Küche mit dem Geschirr rumorte oder mit ihrem Strickzeug schweigend auf der Ofenbank saß. Seine Worte fielen auf den fruchtbaren Boden eines Kindergemüts, das ganz unbewusst nach einer absoluten Wahrheit suchte. Lag es daran, dass er in einer Welt der Doppelzüngigkeit aufwuchs? Schon als Fünfjähriger wusste er, dass er im Kindergarten nicht alles erzählen durfte, was zu Hause gemacht und besprochen wurde, und das ging in der Schule so weiter.
Nun verstand er. Wenn die Lehrerin vorn an der Tafel vom ruhmreichen Kommunismus sprach, lehnte er sich zurück und ein kleines überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste, dass sie log. Kommunismus ist ein »mus-Wort«, also kann er nur schlecht sein. Er bringt den Menschen Not, Krieg und Hass. Konrad darf das nicht in der Schule sagen, denn sie haben den längeren Arm und können ihm die Zukunft versauen. Auch das hatte der Urvater gesagt. Aber die Gedanken sind frei und deshalb hatten die Kommunisten das Lied von den freien Gedanken verboten.
Hielten sich nicht auch die Kinder der völkischen Siedler für etwas Besseres? Hatten sie ihnen nicht das Leitbild einer elitären Gemeinschaft eingepflanzt, die allen anderen Menschen überlegen war? Nicht umsonst bezeichneten sie ihre Kinder als ihren größten Reichtum. Bei dieser Aussage ging es nicht nur um das Band der Liebe, das in jeder Familie Eltern und Kinder vereint. Es ging vor allem um die Zukunft ihrer Ideologie. Die Kinder waren der fruchtbare Boden, den sie bestellten, um zu Ende führen zu können, wozu sie sich berufen fühlten. Entsprach nicht genau dies Urvaters Motivation, dem achtjährigen Jungen sein eigenes Weltbild zu vermitteln?
Der Urvater hatte Konrads geistiges Potenzial und seine schon früh ausgeprägte Suche nach dem Sinn des Lebens als Einziger in der Familie erkannt. War Konrad die Hoffnung seines Alters, wie kein anderer seiner